Totenfeuer
Wilms. Sie schüttelt ihm die Hand und will sie vor Begeisterung gar nicht wieder loslassen.
»Ich wollte nur mal so vorbeischauen und zuhören.«
»Nichts da! Hier wird nicht zugehört, hier wird gesungen. Nur keine Hemmungen. Sie werden sehen, das wird Ihnen Freude machen. Singen ist gut für Körper und Seele, ein guter Ausgleich für Ihren Beruf.«
Völxen nickt schicksalsergeben. Nachbar Köpcke, dessen Gattin er mit seinem Blumenstrauß einigermaßen über ihren verwüsteten Garten hinwegtrösten konnte, hat darauf bestanden, dass Völxen ihn »ganz unverbindlich« zur Chorprobe ins Dorfgemeinschaftshaus begleiten soll. »Dort erfährt man immer am schnellsten, was im Dorf los ist, das ist doch jetzt wichtig für dich!«, hat Jens Köpcke als Argument angeführt. Wahrscheinlich hat das elende Schlitzohr mit dem einen oder anderen alten Zausel hier eine Wette laufen, vermutet Völxen, der zudem den Verdacht hat, dass Sabine bei der Sache ihre Finger im Spiel hat, da sie ja des Öfteren seine aktivere Beteiligung am Dorfleben anmahnt. Zumindest hat sie sich unverhohlen amüsiert. Man kann einfach niemandem auf der Welt trauen, nicht mal der eigenen Familie, erkennt der Kommissar resigniert.
»So, bitte stellt euch auf, wir müssen für das Maisingen üben, es ist nicht mehr lange hin«, verkündet die Chorleiterin und ergreift ihren Taktstock, während sich das Dutzend älterer Herren in zwei Reihen aufstellt.
Völxen plant, sie auszutricksen. Er wird sich nach hinten stellen und nur so tun, als ob er sänge. Er hat seit der Schulzeit nicht mehr gesungen, und schon damals konnte er dem Chorgesang nichts abgewinnen.
»Unser Neuzugang kommt bitte nach vorne«, ordnet Frau Wilms an. Mit ihrem Dutt, um den sie ein buntes Tuch gewickelt hat, strahlt die Mittfünfzigerin eine charmante Autorität aus, der sich die Herren ohne Murren unterordnen. Völxen stellt sich zähneknirschend in die erste Reihe. Neben ihm feixt Köpcke, und Völxen verspürt den Drang, ihm den Hals umzudrehen. Frau Wilms hebt den Taktstock, man einigt sich auf einen Anfangston, der Stock saust hernieder, und schon bricht der Gesang los:
Grüß Gott, du schöner Maien, da bist du wiedrum hier.
Tust Jung und Alt erfreuen mit deiner Blumen Zier.
Die lieben Vöglein alle, sie singen also hell;
Frau Nachtigall mit Schalle hat die fürnehmste Stell’.
Ein Dutzend Altmännerstimmen scheppern, zittern und kratzen die Strophe herunter, einige scheitern an den höheren Tönen, und müsste das Ganze nicht viel schneller gesungen werden? Völxen, der bis jetzt geglaubt hat, durch die Ehe mit einer Klarinettistin abgehärtet zu sein, was schräge Töne angeht, muss lernen, dass es für alles eine Steigerung gibt. Und was ist das überhaupt für ein schreckliches Deutsch? Tust Jung und Alt erfreuen …
»Herr Völxen, Sie singen ja gar nicht mit.«
»Aber sicher.«
»Aber nein. Sie bewegen ja nur den Mund. Ich merk das!« Frau Wilms droht ihm scherzhaft mit dem Taktstock.
»Ich kann den Text nicht.«
»Das ist doch kein Problem.« Hedwig Wilms greift in ihre Aktentasche, die auf einem an die Wand gerückten Tisch steht. Unter dem Tisch warten zwei Kästen Bier auf die durstigen Kehlen der Sänger. Wenn’s nur schon so weit wäre, wünscht sich Völxen und bekommt ein Heft in die Hand gedrückt, auf dem in geschwungener Schrift Mailieder steht.
»Und die zweite Strophe bitte.«
Dieses Mal gibt es kein Entrinnen, denn Frau Wilms postiert sich direkt vor den Kommissar. Auf Gedeih und Verderb quetscht Völxen ein paar Töne hervor. Je schlechter, desto besser, denkt er. Dann kommen sie wenigstens nicht auf die Idee, mich behalten zu wollen.
Die kalten Winde verstummen, der Himmel ist gar blau,
die lieben Bienlein summen daher von grüner Au.
Oh holde Lust im Maien, da alles neu erblüht,
du kannst mich sehr erfreuen, mein Herz und mein Gemüt.
»Das war doch schon ganz ordentlich«, lobt Frau Wilms. »Nur Mut. Das wird schon.« Sie strahlt Völxen an und lässt dabei viel Zahnfleisch sehen. Sie scheint mehr Zähne zu besitzen als ein Leibniz -Keks.
»Ich wusste gleich, dass er Talent hat«, brüstet sich Köpcke, woraufhin Völxen ihm den Ellbogen in die Seite rammt.
»Und jetzt beide Strophen noch einmal, aber mit ein bisschen mehr Tempo, meine Herren, wenn ich bitten darf!«
Mit dieser Aufforderung spricht die Chorleiterin Völxen aus der Seele. Erneut hebt sie ihren Taktstock, und das Ganze geht von vorne los. Allmählich verliert
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