Totenfeuer
war total peinlich! Wir sind dann auch ganz schnell raus, zu den Pferden.« Anna lacht kurz und bitter auf und fährt dann fort: »Dabei bin ich überzeugt, dass Martha noch heute vom Geschirr der Sommerfelds isst. Die alten Möbel sind jedenfalls noch da.«
Jule erinnert sich an den Raum, in dem sie das Gefühl hatte, dass die Zeit stehen geblieben ist. Damals, ohne den Plunder an den Wänden, war das Zimmer mit den dunklen Möbeln bestimmt sehr elegant gewesen. Sie hat Martha Felk vor Augen, wie sie auf die Urkunden an der Wand weist. Unser Lebenswerk . Ja, Martha und Ernst Felk haben ihr Leben lang gearbeitet, um das Gut zu dem zu machen, was es heute ist. Ist es ihre Aufgabe, die moralische Hypothek, die darauf lastet, zu tilgen? Durch Marthas Augen betrachtet, sicherlich nicht. Hat Heiner Felk das bedacht, als er Thelma dort herumführte? War ihm klar, wie viel Angst er damit auslöste? Und nicht nur Angst. Jule muss daran denken, wie kurz angebunden Ernst Felk gestern reagiert hat, als sie seine Auswanderergeschichte kommentierte. Offenbar sind ihm die Umstände, unter denen sein Großvater Ludwig an das Gut gekommen ist, noch heute peinlich. Wahrscheinlich hat Ludwig Felk es für ’nen Appel und ’n Ei, wie es so schön heißt, bekommen, und selbst dabei ist noch fraglich, ob die Sommerfelds je einen Pfennig davon gesehen haben. Wie beschämt und wütend muss Ernst gewesen sein, als Anna und ihr Großvater das alles wieder aufrührten und gleich noch einen Reporter der Heimatzeitung dazubestellten.
»Wie stand denn Ihr Vater zu dieser ganzen Angelegenheit?«
»Der hat sich da rausgehalten.«
Klar, es ging ja auch nicht um sein Erbe, stichelt Jule in Gedanken. Der war ja fein raus mit seinem Medizinstudium, das ihm keiner mehr wegnehmen konnte, außer er selbst, indem er seinen Beruf an den Nagel hängte. War das seine Art der Sühne? Nein, das ist jetzt wirklich zu abwegig, bremst sich Jule. Außerdem hat Felk auch als Naturheilkundler bestimmt noch von seinem Dr. med. profi- tiert.
»Ich fand Thelma sehr nett«, erzählt Anna weiter. »Sie hat sich sehr bemüht, um bei Opa kein schlechtes Gewissen entstehen zu lassen. Der wollte natürlich alles über ihre Mutter Lydia wissen. Sie war seine erste große Liebe, er hat mir die Briefe von ihr gezeigt, die sie später an ihn geschrieben hat.«
»Wo sind die jetzt?«, fragt Jule.
»Ich habe sie. Sie lagen im Schreibtisch meines Vaters, er muss sie aus dem Altenheim mitgenommen haben. Ich wollte nicht, dass … ich wollte sie ihm eigentlich mit ins Grab geben, deshalb habe ich sie eingesteckt. Es sind nicht viele, es sind auch keine Liebesbriefe. Eigentlich steht darin nur belangloses Zeug: das Haus, die Gegend, ihr neues Auto, der Werdegang der Tochter Thelma … Alltägliches eben. Über das KZ stand kein Wort drin und auch kaum eine Zeile über die Zeit davor. Es war wohl mehr der Kontakt an sich, der ihm viel bedeutet hat.«
»Ist er nie hingeflogen?«, erkundigt sich Jule. »Er hätte sie doch mal besuchen können.«
»Er hat gesagt, Roswitha, seine Frau, wäre ihm in diesem Fall ganz schön aufs Dach gestiegen. Außerdem war Lydia ebenfalls verheiratet, und er war nicht sicher, ob ihrem Mann das gefallen würde. Sie hat ihn wohl auch nie eingeladen, zumindest nicht in den Briefen. Ich glaube, sie war damals gar nicht in ihn verliebt, nur er in sie, aber das habe ich natürlich nie angesprochen. Später, als Roswitha dann krank und im Heim war, da war Lydia auch schon tot. Bei den Briefen war eine Todesanzeige. Lydias Mann hat sie geschickt, der lebt inzwischen auch nicht mehr. Im Nachhinein hat Opa es bereut, dass er nie dort war. Er hat mal gesagt: ›Wenn ich gewusst hätte, was ich heute weiß, dann hätte die mich mal gern haben können.‹ Und mit die meinte er Roswitha.«
»Und um welches Wissen ging es dabei?«, fragt Jule, der auffällt, dass Anna immer nur von »Roswitha« oder »seiner Frau« spricht, aber nie das Wort Großmutter benutzt.
»Kurz nach Roswithas Tod ist er mit mir mal raus nach Ahlem gefahren …« Sie hält inne, als müsse sie ihre Erinnerungen erst zusammenklauben.
Jule hilft ihr auf die Sprünge: »In die ehemalige Israelitische Gartenbauschule beziehungsweise die heutige Gedenkstätte.«
»Woher wissen Sie das?«, fragt Anna verblüfft.
»Dort war eines der vierzehn sogenannten Judenhäuser, die als Sammelstelle für die Deportationen dienten.«
Anna nickt. »Dort waren wir. Er hat geweint. ›Hier haben sie
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