Totenfeuer
meine Lydia fast ein Jahr lang eingesperrt‹, hat er gesagt. ›Und ich Idiot dachte damals, sie wäre schon in Amerika und hätte mich vergessen.‹ Er war nämlich in Hamburg, ein Pferd ausliefern, als Lydia und ihre Eltern abgeholt wurden. Man hat ihm zunächst erzählt, die Sommerfelds wären Hals über Kopf ausgewandert. Er hat monatelang auf einen Brief aus Amerika gewartet.«
»Aber er muss irgendwann von ihrem Schicksal erfahren haben, spätestens nachdem sie ihm aus den Staaten geschrieben hat.«
Anna trinkt von ihrem Tee und sagt: »Ja, natürlich. Er hat es seit Kriegsende gewusst oder vielleicht sogar noch früher, durch irgendwelchen Dorfklatsch. Nein, er meinte mit ›wenn ich gewusst hätte …‹ etwas anderes: In den Sachen, die Roswitha im Pflegeheim bei sich hatte, war ein Brief, den Lydia ihm in der Zeit, als sie in diesem Judenhaus war, geschrieben hat. Roswitha muss den Brief abgefangen und all die Jahre versteckt haben. Das hat er ihr sogar nach ihrem Tod noch übel genommen.«
»Ihre Großeltern kannten sich damals also schon?«
»Ja klar. Roswitha wohnte im Dorf, sie war sozusagen die Sandkastenfreundin meines Großvaters. Sie ging auf dem Gut ein und aus. Außerdem war sie die Tochter des Briefträgers, also konnte sie den Brief leicht abfangen. Ich nehme an, sie war eifersüchtig auf Lydia.«
Arme Roswitha, denkt Jule. Wahrscheinlich war sie zeit ihres Lebens eine ungeliebte Frau. Und ungeliebte Frauen sind eifersüchtig. »Existiert der Brief noch?«, fragt sie.
»Ich weiß es nicht. Er war jedenfalls nicht bei den anderen. Vielleicht hat er ihn auch Thelma gegeben.«
»Wäre möglich«, stimmt Jule ihr zu.
»Er hat in dem Zusammenhang auch mal das Wort Verrat benutzt. Obwohl …«, Anna zuckt mit den Schultern, »… von Verrat kann man ja eigentlich nicht reden. Die Sommerfelds haben sich dort auf dem Gut ja nicht direkt versteckt. Jeder im Ort wusste, dass die da wohnen. Ich nehme an, die haben, wie viele andere auch, die Gefahr einfach unterschätzt und zu lange gehofft, dass dieser Spuk mit den Nazis bald wieder vorbei sein würde. Jedenfalls hat sich mein Opa nie verziehen, dass er nicht da war, als man sie festgenommen hat. Andererseits – was hätte er schon machen können gegen die Typen von der Gestapo? Ich habe ihn das mal gefragt, aber er sagte nur, er hätte sie alle über den Haufen geschossen.« Anna steht auf. »Warten Sie, ich zeig Ihnen was.« Sie geht hinüber in das Zimmer mit dem Schreibtisch und kommt mit einem in Leder gebundenen Buch wieder und mit einem Foto. »Das war mein Opa mit neunzehn.« Der attraktive, schmalgesichtige junge Mann trägt einen Cordanzug und lehnt lässig an einer Mauer. Eine lange Haartolle, auf die Elvis neidisch gewesen wäre, fällt ihm ins Gesicht.
»Er sieht aus wie ein Engländer«, findet Jule.
»Das war beabsichtigt. Das war ein kleiner Akt der Auflehnung gegen den Drill der HJ und den Stil der Nazis. Er ist auch immer in den Georgspalast gegangen, wo sie Swing und so was gespielt haben. Einmal wurde er deswegen drei Tage lang eingesperrt.«
»Mutig.«
»Oder unbesonnen. Er war der jüngste von drei Brüdern, deshalb durfte er hierbleiben und musste nicht an die Front. Die anderen beiden sind dann auch nicht aus dem Krieg zurückgekommen.«
»Und was ist das?« Jule tippt auf die lederne Kladde. Das Papier zwischen den Deckeln ist vergilbt.
»Das hat mir mein Vater gegeben. Er hat es aus dem Altenheim, als er am Freitag … nachdem Opa …« Annas Stimme versagt, ein unkontrollierter Schluchzer steigt aus ihrer Kehle, aber sie fängt sich wieder und spricht weiter: »Ich dachte zuerst, es wäre ein Tagebuch von Opa, aber dann habe ich gemerkt, dass es eines von Roswitha war. Ich bin noch nicht dazu gekommen, es zu lesen, ich kann diese schnörkelige Schrift auch kaum entziffern. Aber wenn Sie es anschauen wollen, leihe ich es Ihnen. Vielleicht steht ja etwas drin, das die Ermittlungen weiterbringt.«
»Gerne. Sie kriegen es wieder«, verspricht Jule und kommt nun zum eigentlichen Grund ihres Besuchs: »Anna, wissen Sie etwas über den geplanten Verkauf zweier Grundstücke Ihres Großvaters, der in diesen Tagen über die Bühne gehen sollte?«
Die junge Frau sieht Jule erstaunt an, ihre Überraschung scheint echt zu sein. »Was denn für Grundstücke?«
»Zwei Felder in Springe, die etwa 80 000 Euro wert sind. Haben Sie eine Idee, was Ihr Großvater mit dem Geld wollte?«
Sie schüttelt nachdenklich den Kopf. »Ich
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