Totenfrau
wäscht seine Haare, föhnt sie. Sie rasiert ihn. Blum macht ihre Arbeit. Einen kurzen Augenblick lang vergisst sie sogar, dass er es ist, der da vor ihr liegt, dass es sein Mund ist, den sie für immer schließt. So wie sie es von Hagen gelernt hat. Mit einer Rundnadel sticht sie in eine Hautfalte hinter dem Kinn, sie führt die Nadel durch den weichen Zungengrund, sticht unter der rechten Oberlippe hinauf in das rechte Nasenloch und kommt seitlich des Septums in einer kleinen Falte heraus. Dann sticht sie durch das Septum ins linke Nasenloch, sie nimmt den gleichen Weg zurück, durch die linke Hälfte der Oberlippe nach unten. Sie näht ihn zu. Seinen Mund. Eine Kiefer-Ligatur, wie oft sie das schon gemacht hat, wie selbstverständlich sie erneut durch das Kinn sticht, wie sie den Kiefer mit den Fadenenden zusammenzieht und den Knoten macht. Wie sie seine Lippen zu einem Lächeln formt. Wie sie diese Lippen anstarrt und weint. Die Tränen fallen einfach nach unten und schlagen auf. Wie sie liegen bleiben auf seiner Haut. Und wie Blum sich zwingt weiterzumachen, seinen Kopf zu verbinden, die Wunden zu verbergen. Und dann die Kleidung. Mit großer Anstrengung zieht sie ihn an. Ohne Rezas Hilfe, der schwere Leib. Wie sie ihn zur Seite rollt. Seine kaputten Beine. Seine Lieblingshose, sein weißes T-Shirt.
Wie er daliegt. Und wie Blum auf den Versorgungstisch klettert und sich zu ihm legt. Weil sie nicht anders kann, nur einmal noch. Bei ihm sein, seine Hand halten, ihn spüren ganz nah, bevor er für immer unter der Erde verschwindet. Kurz nur. Niemand wird sie sehen, Reza wird nicht zurückkommen, auch Karl wird nicht in den Versorgungsraum kommen, sie ist allein mit ihm. Mark und Blum. Zwei Körper eng beieinander auf dem schmalen Tisch, Blums Finger sind um seine geschlungen, aber sie bewegen sich nicht, egal wie fest sie zudrückt. Egal wie sehr sie es sich wünscht. Keine Rührung. Nur seine kalte Haut, ein letztes Mal so etwas wie Nähe, eine Erinnerung daran, bevor sie ihn in den Sarg legt. Bevor sie kommen, um ihn ein letztes Mal zu sehen, Reza, Karl, die Freunde, die Kinder. Sie werden sich verabschieden von ihm, morgen, alles wird den gewohnten Lauf nehmen, die Aufbahrung, die Einsegnung, die Beerdigung. Sie werden ihn hinunterlassen und Erde auf ihn schaufeln, er wird in einem Eichensarg verfaulen, von den Würmern gefressen werden, verwesen. Bis nichts mehr von ihm übrig ist, nur noch Knochen und später nicht einmal mehr die. Nichts wird mehr da sein von ihm. Bald schon. Doch jetzt ist da noch seine Hand in ihrer. Sie kann ihn noch berühren, spüren, er liegt neben ihr, sein Körper, sein Gesicht. Noch ist er da. Eine Nacht lang, wenige Stunden nur. Und deshalb bleibt sie liegen. Lautlos, sie versucht, nicht zu atmen, sie hält die Luft an, verzweifelt versucht sie ein Geräusch auszumachen, einen Laut zu hören, etwas, das ihr sagt, dass er noch lebt. Dass er nur schläft. Aber da ist nichts. Nur ihr Atmen, ihr Brustkorb, der sich hebt und senkt. Nur sie. Blum und ihr toter Mann. Nur ihre Gedanken, ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Verzweiflung, ihr Herz, das brennt, brüllt, weint. Blum und Mark. Einfach ausradiert, von heute auf morgen. Alles zu Ende. Alles dunkel. Augen zu.
6
Massimo weint. Seine Frau steht neben ihm. Daneben Karl. Blum und die Kinder stehen am Grab, ganz vorne, sie werfen Sonnenblumen nach unten. Gelb bleiben sie liegen auf dem Sarg, ein Bild, das einen kleinen Augenblick lang tröstet. Blumen für Papa. Blumen für Mark, Blumen, die wehtun. So sehr, immer noch, mehr noch als zuerst, drei Tage danach, drei Tage ohne ihn. Drei Tage, in denen sie verzweifelt nach ihrem Alltag suchten. Reza steuerte das Boot, er organisierte alles. Er war für Blum da, für die Kinder, für Karl. Ohne ihn wäre das Boot gekentert. Er ist stark. Er weint nicht. Nur sein Lächeln ist verschwunden, dieses Lächeln, das vor Jahren in seinem Gesicht angekommen war, damals, als sein Leben in der Villa begonnen hat. Dieses Lächeln ist weg, man sieht, dass es irgendwo in ihm zu einem Weinen geworden ist, dass er ihn vermisst. Mark und Reza.
Reza hat mitgeholfen, den Sarg zu tragen, er hat alles koordiniert, die Traueranzeigen gestaltet, die Trauerfeier organisiert. Blum musste sich um nichts kümmern, Reza steuerte, sie konnte für die Kinder da sein, sie ablenken, sie vorbereiten, ihnen Schritt für Schritt erklären, was passieren wird. Der Versuch, ihnen zu sagen, dass ihr Papa nie wieder zurückkommen
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