Totenfrau
Kinder rennen in kurzen Kleidern durch den Garten, Karl sitzt in seinem Ohrensessel, Blum hängt Wäsche auf. Fast ist es so, als wäre die Welt wieder in Ordnung, die Dinge, die man sieht, unterscheiden sich nicht von früher. Der Garten, die alten Apfelbäume, die Schaukel, die hin und her schwingt, Uma, die mit dem Gartenschlauch das Blumenbeet flutet, Nela, die einer Puppe Erde in die Haare reibt. Der Himmel steht still, keine Wolken sind in Sicht. Und immer noch tut es weh. Wenn sie aufwacht, wenn sie einschläft, wenn die Kinder von ihm reden. Blum weiß, dass es nicht besser wird, dass es nicht aufhören wird, sie aufzufressen, trotzdem hat sie beschlossen, nicht zu sterben, sich nicht fallen zu lassen, nicht liegen zu bleiben, jeden Morgen aufzustehen und mit den Kindern zu leben. Jeden Tag wieder. Egal wie schwer es ihr fällt, sie muss bleiben, weitergehen, einen Schritt vor den anderen setzen, egal wie schwer ihre Beine sind. Egal wie sehr sie sich danach sehnt, sich zu betäuben, mit Tabletten, mit Alkohol, damit die Erinnerungen weggehen. Die Entscheidung jeden Abend, wenn die Kinder im Bett sind, gegen Valium und Wodka. Blum muss funktionieren, dabei will sie doch nur vergessen, nichts mehr spüren. Jeden Morgen versucht sie es wieder, kalt zu sein, unverletzlich. Jeden Morgen scheitert sie. Auch heute.
Immer noch gibt es keine Spur von dem Wagen. Der Fahrer ist nicht auffindbar, verschwunden für immer. Wahrscheinlich war er betrunken, er war zu schnell, er hätte Mark sehen müssen. Keine Spur von ihm, kein schwarzer Rover in den Werkstätten, sie sind allen Möglichkeiten nachgegangen. Fahrerflucht mit Todesfolge steht auf den Akten, mehr nicht. Täter unbekannt, Täter mit dem Leben davongekommen, ein Leben in Freiheit. Einfach so hat er alles ausgelöscht, vielleicht hat er telefoniert, eine Mail geschrieben, eine SMS, vielleicht ist er kurz eingenickt. Blum wird es nie erfahren, sie werden ihn nicht finden. Obwohl Massimo alles dafür tut.
Er hat sein Versprechen wahr gemacht. Seit dem Begräbnis ist er für sie da, er hat ihr geholfen, das offizielle Leben von Mark aufzulösen. Wege zu Ämtern, Versicherungen, Anwälten, Notaren. Massimo hält ihr den Alltag vom Leib, er und Reza. Damit sie sich um die Kinder kümmern kann, damit sie überlebt, damit ihre Tränen sie nicht verschlucken. Das Geschäft läuft weiter, weil das Sterben nicht einfach aufhört. Reza holt die Toten aus den Altersheimen, er holt sie aus dem Wald, aus ihren Büros, aus ihren Betten, von der Straße, er macht einfach seine Arbeit, so wie er es von Blum gelernt hat. Er arbeitet ununterbrochen, er spricht wenig, seine Gefühle sind irgendwo verborgen. Man erahnt nur, wie schlimm es für ihn ist. Weiterleben, weiterarbeiten, weil sonst nichts bleibt. Da ist nur dieses Leben, nur dieses eine, das sich gerade völlig verändert. Andere Farben plötzlich, andere Töne. Reza hört diese Töne und schweigt. Blum weiß es. Er hat weniger Worte als Massimo, er hat gar keine. Deshalb ist er dankbar, dass er sich um Blum kümmert, sie auffängt, ihr zuhört. Massimo.
Ein Freund seit Jahren. Ein Arbeitskollege, Polizist, Marks Vorgesetzter. Massimo ist nur drei Jahre älter als Mark, hat aber auf der Karriereleiter ein paar Sprossen übersprungen. Massimo verbringt mehr Zeit im Präsidium als zu Hause. Weil er seine Arbeit liebt, sagt er. Weil er nicht zu Hause sein will, sagte Mark. Seine Ehe ist am Ende, Ute trinkt. Die Kinder, die sie gemeinsam hätten haben wollen, sind nie auf die Welt gekommen. Jahrelang haben sie es versucht. Ute und Massimo haben zugesehen, wie Blum Kinder auf die Welt brachte. Fremdes Glück, das ihnen ihr Scheitern aufzeigte. So sehr sie es auch wollten, Ute wurde nicht schwanger, auch künstliche Befruchtung blieb erfolglos. Kein Kind kam. Das Unglück wurde größer, die Verzweiflung, der Wunsch, der tonnenschwer auf ihrer Beziehung lastete. So schwer, dass Ute zu trinken begann. Massimo leidet darunter, von Monat zu Monat mehr, es steht in seinem Gesicht geschrieben, das Unglück, mit dem er jeden Morgen aufwacht. All seine Versuche, ihr zu helfen, sind gescheitert. Entziehungskuren, zu denen er sie überreden wollte, Paartherapien, zu denen er mit ihr gehen wollte. Nichts half, sie ließ nichts an sich heran, niemanden. Und darunter leidet er. Mehr als er zugibt, Blum weiß es. Dass er sie bereits aufgegeben hat. Dass er nicht mehr für sie da sein will, wenn sie betrunken auf den Tisch steigt. Bei der
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