Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Aichner
Vom Netzwerk:
Eine Frau aus dem Altersheim, wir mussten sie durch die Küche tragen.
    – Warum durch die Küche?
    – Sie wollten nicht, dass die anderen Insassen sehen, dass jemand gestorben ist.
    – Insassen?
    – Bewohner.
    – Warum durch die Küche, um Gottes willen?
    – Weil sie die Insassen nicht daran erinnern wollen, dass es bald vorbei sein kann.
    – Wir hatten uns auf Bewohner geeinigt.
    – Von mir aus.
    – Die Angehörigen?
    – Kommen morgen, sie wollen sie noch einmal sehen.
    – Reza, du bist der Beste.
    – Grab ist gebucht, Trauerfeier organisiert.
    – Wenn du Hilfe brauchst, melde dich.
    – Alles ist gut.
    – Ist es das?
    – Nein.
    – Du sagst nichts.
    – Nein.
    – Wie es dir geht.
    – Mark war mein Freund.
    – Ja.
    – Es ist wie eine Torte ohne Kerzen.
    – Eine Torte?
    – Mark war die Kerze.
    – Ich verstehe.
    – Er wurde einfach ausgeblasen.
    – Ja, es ist dunkel ohne ihn.
    – Die Torte hat keine Kerzen mehr.
    – Karl hat heute gesagt, dass wir es schaffen werden.
    – Hat er das? Das ist gut. Das ist sehr gut.
    – Wir schaffen das, Reza. Gemeinsam.
    – Ja.
    – Du, Karl, die Mädchen und ich.
    – Ja.
    – Es wird besser.
    – Wann?
    – Bald, Reza, bald.
    Blum geht nach oben. Fast glaubt sie selbst daran, kurz flammt etwas Positives in ihr auf, etwas wie Hoffnung. Es war wie ein Rausch, dieses Gefühl, das Motorrad. Sie hat überlebt, sie hat gespürt, was er gespürt hat, sie hat ihr Schicksal herausgefordert, sie wollte es wissen. Ob sie leben soll. Oder sterben. Sie hat sich für das Leben entschieden, für die Kinder, für alles, das kommt. Auch für Dunja. Sie wird herausfinden, was passiert ist, was es mit dieser Frau auf sich hat, wovor sie solche Angst hat. Blum will es wissen, sie spürt, dass es wichtig ist. Dass alles wahr ist. Keine Wahnvorstellungen, Mark hat daran geglaubt, und deshalb tut sie es auch. Er wollte dieser Frau helfen. Und das will sie auch. Sie hat keine andere Wahl, sie hat gehört, was ihr zugestoßen ist, sie kann nicht so tun, als wäre nichts passiert, als wüsste sie nichts. Durch Zufall wurde sie zur Mitwisserin, sie hat auf Play gedrückt, und deshalb muss sie jetzt hinsehen, sie kann nicht anders, sie wird sich alles noch einmal anhören. Kurz noch geht sie zu den Kindern, kurz legt sie sich zu ihnen und küsst sie, dann verschwindet sie in seinem Arbeitszimmer.
    In seinem Stuhl sitzt sie. In ihrer Hand das Telefon, diese unglaubliche Geschichte. Die Entführung dreier Menschen, Vergewaltigung, Gefangenschaft. Horror, jahrelang. Alles hatte ganz harmlos begonnen, ein neues Leben sollte es sein, Arbeit in den Bergen, die Flucht aus einem armen Land. Dunja kam mit Schleppern nach Österreich, ihre Heimat Moldawien wollte sie für immer verlassen. Es gab dort keine Perspektive für sie, auch ihr Studium half ihr nicht, es gab keine Arbeit für eine Dolmetscherin. Sie hatte keine Zukunft, das Einzige, was sie konnte, war Deutsch zu sprechen. Nach Österreich oder Deutschland zu gehen bot sich an. Man versprach ihr das Glück, Arbeit in einem schönen Hotel, zuerst als Zimmermädchen, später vielleicht an der Rezeption. Die Bezahlung war gut, alles schien perfekt zu sein, sie war problemlos ins Land gekommen, alles, was man ihr versprochen hatte, war eingetreten, das Geld, das sie investiert hatte, war gut angelegt.
    Sölden war ihre neue Heimat, das Design-Hotel Annenhof, es war wie im Märchen. Ein eigenes Haus für die Mitarbeiter, gutes Essen. Dass sie nicht versichert war, war ihr egal, dass sie offiziell gar nicht im Land war, dass der Hotelier viel Geld sparte. Sie war zufrieden, alles hätte so weitergehen können, sie hatte sich ein neues Leben aufgebaut, sie hatte sogar Freunde gefunden. Andere illegale Mitarbeiter, die Heinzelmännchen im Hotel, die fleißigen Hände, die im Verborgenen arbeiteten, in der Küche, in der Wäscherei, in den Zimmern, niemand bekam sie zu Gesicht, auszugehen war ihnen verboten. Kein Kontakt zu den Dorfbewohnern, hieß es. Der Hotelier wollte keine Probleme, Dunja hielt sich daran. Spaziergänge am frühen Morgen oder am späten Abend. Wenn alle schliefen, war sie unterwegs und atmete Bergluft. Sie genoss es. Wenn sie genug Geld gespart hatte, wollte sie nach Deutschland, in eine große Stadt, vielleicht nach Berlin, nach Hamburg, sie wollte eine Aufenthaltsgenehmigung, sie wollte ein richtiges Leben, kurz hatte sie daran geglaubt. Dass die Welt gut war, dass es außer Moldawien noch etwas anderes gab, etwas, das

Weitere Kostenlose Bücher