Totenfrau
erzählen. Und dann werde ich diese Männer finden, ich werde dafür sorgen, dass sie vor Gericht kommen, dass sie eingesperrt werden, dass sie bestraft werden für das, was sie Ihnen angetan haben. Ich verspreche es Ihnen, Ihnen wird nichts passieren.
– Warum tun Sie das?
– Weil ich Ihnen helfen will.
– Das hätten Sie früher tun müssen.
– Nachdem Sie aus dem Krankenhaus verschwunden sind, habe ich die ganze Stadt nach Ihnen abgesucht.
– Ich war nüchtern, als ihr das zweite Mal mit mir geredet habt.
– Sie haben nichts mehr gesagt. Sie haben nur die Wand angestarrt. Was hätten wir denn tun sollen? Wir sind in solchen Fällen an bestimmte Abläufe gebunden, es blieb uns nichts anderes übrig, als auf Ihre Entlassung aus dem Krankenhaus zu warten.
– Es war ein psychiatrisches Krankenhaus. Ihr habt mich dort zwei Wochen lang eingesperrt. Geschlossene Abteilung, ich konnte nicht weg. Dreizehn Tage lang dieser Arzt, der versucht hat, mir auszureden, was passiert ist. Er wollte von mir hören, dass ich phantasiere. Er wollte unbedingt, dass es nicht wahr ist. Und deshalb habe ich ihm Recht gegeben und bin gegangen. Ich habe die erste Möglichkeit genutzt, um für immer zu verschwinden. Für immer, verstehen Sie? Ich bin nichts weiter als eine drogenabhängige Illegale, die sich mit allen Mitteln vor der Abschiebung drücken will. Mehr nicht.
– Da ist viel mehr als das, und ich bin hier, um mit Ihnen darüber zu reden. Ich werde Ihnen zuhören, bis Sie mit Ihrer Geschichte fertig sind.
– Ihr wolltet euer kleines Problem so schnell wie möglich loswerden.
– Im Krankenhaus habe ich Sie danach gefragt, Sie hätten mit mir reden können, aber Sie waren still.
– Manchmal ist es besser, still zu sein.
– Ich kann Sie beschützen.
– Das können Sie nicht.
– Ich will, dass die Männer gefasst werden. Aus irgendeinem Grund glaube ich Ihnen, ich bin absolut überzeugt, dass Sie die Wahrheit sagen.
– Warum?
– Ich habe es in Ihren Augen gesehen.
– Was?
– Das Entsetzen, die Angst. Das war echt.
– Gehen Sie doch einfach.
– Das kann ich nicht.
– Bitte.
– Sagen Sie mir, wie Sie heißen.
– Ich weiß es nicht. Weder wie ich heiße, noch wie alt ich bin. Nur so kann ich bleiben. Das haben uns die Schlepper damals beigebracht.
– Ich heiße Mark.
– Das will ich nicht wissen.
– Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ich wohne in der Elisabethstraße, und ich werde so lange hierbleiben, bis Sie mit mir reden.
– Mark also.
– Ja.
– Schalten Sie das aus, Mark.
– Das ist nur für mich, das wird niemand sonst hören.
Niemand außer Blum. Das Telefon in ihrer Hand. Seine Stimme und die von Dunja. Eine Obdachlose, die ihre Geschichte erzählt. Wie er Privates offenlegte, damit sie ihm vertraute. Verängstigt, zögernd begann sie sich zu erinnern, von Minute zu Minute öffnete sie sich mehr. Dunja und Mark. Er hat mit Blum nicht über sie gesprochen, nichts erzählt, kein Wort, obwohl es ihn so sehr beschäftigt hat. Mark wollte einen Fehler wiedergutmachen, er hat sich in seiner Freizeit um sie gekümmert, über zwanzig Dateien gibt es auf seinem Telefon, immer ist es ihre Stimme. Ihre und seine. Zwanzig Gespräche mit einer Frau, die Unfassbares durchgemacht hat, Gespräche, die Blum nie hätte hören sollen, detaillierte Protokolle eines Verbrechens, aufgezeichnet irgendwo in der Stadt, unter der Autobahn, in seinem Auto, in Tiefgaragen, verborgen, versteckt. Dunja hatte Angst, große Angst, die Mark ernst nahm. Er wollte nicht, dass ihr etwas passierte, er wollte ihr helfen.
Blum kontrolliert die Daten, sie will wissen, ob da noch etwas ist, sie will alles wissen, jetzt, sofort. Zwei Wochen lang trafen sie sich. Das letzte Treffen der beiden war am Tag vor dem Unfall. Manchmal brach Dunja sie ab, weil die Erinnerung wehtat, weil sie Angst hatte, dass es wiederkommt. Das Böse, die fünf Männer im Keller, ihre Körper, das Stöhnen, der Schmerz, die Schreie. Es ist unglaublich, was Blum hört. Wie das Verbrechen aus dem kleinen Lautsprecher kommt. Stundenlang sitzt Blum in Marks Arbeitszimmer und hört den beiden zu. Immer wieder will sie abbrechen, die Aufnahmen löschen, sie will nicht hören, wie liebevoll er sich um Dunja gekümmert hat. Wie sie in seinen Armen weinte beim vierten Gespräch. Sie will es sich nicht vorstellen. Wortlose Minuten, diese Nähe, die da zwischen ihnen war. Eine andere Nähe, eine andere Frau. Mark und Dunja. Ohne Blum. Nichts von
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