Totenfrau
bestand, öffnete Karl die Tür und ließ sich den Kühlschrank füllen. Karl hat seinen Sohn verloren. Karl versucht ein Lächeln. Karl setzt sich neben sie auf die Bank. Mit wenigen Worten verstehen sie sich.
– Wie geht es dir, Blum?
– Es tut immer noch weh.
– Ja.
– Schön, dass du zu uns kommst.
– Die Kinder?
– Sie leben weiter.
– Und das Motorrad?
– Es ist wieder da.
– Warum?
– Mark hat es geliebt.
– Ja, das hat er.
– Ich werde fahren.
– Wirst du?
– Ja.
– Du hast Angst davor.
– Ja.
– Und du willst trotzdem fahren?
– Angst lähmt.
– Ich hab auch immer Angst um ihn gehabt.
– Er wollte es so.
– Er war ein guter Junge.
– Mehr als das, Karl.
– Wir schaffen das, Blum.
– Ja.
Sie sitzen nebeneinander auf der Bank und schweigen. Karl nimmt ihre Hand und hält sie fest. Nur ihre Hände und die Kinder und das Motorrad. Ein Sommertag im Garten. Es ist alles gesagt. Karl und Blum. Einverständnis und Zuneigung, Blum mag ihn, sie hat nie bereut, ihn zu sich genommen zu haben. Karl ist wie ein guter Hausgeist. Ein Hausgeist, der seinen Dienst wieder antritt. Karl ist wieder zurück, er will sich nicht mehr verkriechen, er hat die Kinder vermisst, sagt er, er will leben, egal ob es wehtut. Weiterleben wie Blum. Einfach weiterleben und die Schaukel vor- und zurückschwingen. Für die Kinder da sein, während Blum unterwegs ist. Während sie versucht, Mark nahe zu sein.
Ohne Helm. Sie steckt den Schlüssel ein und drückt den Knopf. Das Monster schnurrt. Sie winkt den Kindern zu und gibt Gas. Einfach so durch die Einfahrt hinaus auf die Straße. Ohne zu schauen, sie fährt einfach, kein Blick in die Richtung, aus der der Rover gekommen ist. Sie gibt einfach Gas. Vollgas. Egal was kommt, sie fährt. Blum, der Fahrtwind im Gesicht, Mücken. Wie sie einfach an dem Griff dreht und spürt, was passiert. Wie schnell sie ist. Die Wohnstraße nach unten auf die Autobahn, die Augen zusammengepresst, da ist nur ein kleiner Schlitz, durch den sie sieht. Nur ein bisschen Welt. Welt, die vorbeifliegt. Sie schaltet, sie dreht am Gas. Egal was passiert, egal wohin. Schnell und weit. Nur die Straße und Blum.
Seit sie den Führerschein gemacht hat, ist sie nicht mehr gefahren. Eine Schulfreundin war verunglückt, kurz nachdem sie die Prüfung bestanden hatte. Sie war einfach tot. So wie Mark. Diese Angst begleitet sie bis heute, bis jetzt. Immer wenn er wollte, dass sie mitfährt, winkte sie ab, sie hatte Angst zu sterben. Angst vor dem Rover. Ungeschützt in die Hölle, ohne Leder auf der Autobahn, ohne Helm, ohne Schutz, nichts, das sie beschützt, nur ihr Übermut, ihr Leichtsinn, ihre Nähe zum Tod, die Sehnsucht danach. Bei ihm zu sein. Schnell, ohne nachzudenken, hundertneunzig Stundenkilometer, Tiere, die an ihrer Haut kleben, ihr Gesicht, es fühlt sich an, als ob Nadeln in ihre Haut stechen. Trotzdem immer noch schneller, weiterfahren, schneller, zweihundertzwanzig Stundenkilometer. Überholen, das Motorengeräusch. Weiter. Atmen. Sterben.
10
Blum wollte ihn verstehen. Warum er es mochte, warum er es brauchte. Die Geschwindigkeit, dieses Gefühl. Sie hat sich gefragt, warum er es getan hat, warum er bereit war, zu sterben. Jedes Mal wenn er Gas gegeben hat, wenn er schneller fuhr als erlaubt, wenn er flog. Warum er es getan hat. Er hatte Familie, Kinder, Liebe. Ein kleiner Moment hätte genügt, eine kurze Unaufmerksamkeit. Ich liebe es , hat er gesagt. Es ist wie ein Lied. Es ist wie Tanzen, wie Champagner. Du musst es erleben, Blum, einmal nur. Ich passe auf dich auf. Jahrelang wollte er sie überreden. Dass sie aufsteigt, dieses Gefühl mit ihm teilt. Lange hat sie Nein gesagt. Jetzt hat sie es gespürt. Was er gespürt hat. Es war wie Fallen, nichts sonst war wichtig, da war nur noch sie. Blum.
Eine Stunde lang ist sie gefahren. Niemand hat sie aufgehalten, keine Polizei, kein Radar. Eine Stunde lang hat sie mit ihrem Leben gespielt, sich vorgestellt, wie ihr Kopf auf der Leitplanke aufschlägt, wie er die Windschutzscheibe eines entgegenkommenden Wagens berührt. Sie malte sich ihr Ende aus, während sie fuhr. In allen Farben starb sie, unverletzt ist sie zurückgekehrt. Die Welt ist in Ordnung. Karl ist dabei, die Mädchen ins Bett zu bringen, Reza lädt eine Leiche aus dem Wagen.
– Danke, Reza.
– Du musst das nicht sagen.
– Doch, Reza, ich muss. Ohne dich würde das hier alles nicht funktionieren.
– Ist schon gut.
– Wen hast du da?
–
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