Totenfrau
besser war. Kurz nur, ein paar Monate wurde sie noch verschont.
Vor fast genau fünf Jahren war sie nach Österreich gekommen. Mark wollte alles von Anfang an wissen, er wollte, dass sie nichts ausließ. Er bat Dunja, zu erzählen, er hatte ihr Vertrauen gewonnen, sie redete einfach. Mark wollte nichts übersehen, er wollte sichergehen, dass alles zusammenpasste, er hörte zu, stellte Zwischenfragen. Immer wieder vertrieb er ihre Angst, er versicherte ihr, dass ihr nichts passieren werde, dass sie in Sicherheit sei. Er gab ihr sein Wort. Und sie erzählte ihm ihre Geschichte, die in einem Kleinbus begonnen hatte. Zu neunt, zusammengepfercht unter der Ladefläche hatten sie gekauert, über eineinhalb Tage waren sie unterwegs gewesen, ohne zu trinken, ohne zu essen. Erst als sie in Tirol angekommen waren, hatten sie wieder Licht gesehen. Mark wollte wissen, wie die Schlepper hießen, wer den Kontakt zu dem Hotel hergestellt, wer sie in Empfang genommen hatte, wo die anderen acht Personen hingekommen waren. Mark bohrte sanft, er wollte sie nicht verschrecken, er ging behutsam vor. Er suchte nach Anhaltspunkten, irgendwo musste er mit der Suche nach den Männern beginnen. Irgendetwas von dem, was sie ihm erzählte, musste ihm weiterhelfen. Alles war so vage, auf viele Fragen wusste Dunja keine Antwort. An vieles konnte sie sich nicht mehr erinnern, alles, was vor fünf Jahren passiert war, war so weit weg, so viel Leid und Schmerz lagen dazwischen, so viele Betäubungsmittel. Da war nichts, das an einen konkreten Ort führte, zu Menschen, mit denen Mark reden konnte. So sehr sich Mark auch bemühte, Dunja konnte ihm nicht weiterhelfen, nicht so, wie er es sich gewünscht hätte. Sie saß neben ihm im Auto. Er bohrte immer weiter.
– Bitte, Dunja. Du musst dich erinnern.
– Ich hatte wirklich gedacht, dass ich endlich Glück habe.
– Das alles tut mir sehr leid, Dunja.
– Meine Eltern sind fast verhungert, damit ich studieren konnte. Sie wollten, dass ich es besser habe als sie.
– Noch ist dein Leben nicht vorbei.
– Es ist vorbei. Da kann nichts mehr kommen. Nichts mehr, das es wiedergutmacht.
– Leben sie noch, deine Eltern?
– Ich weiß es nicht. Ich wollte sie herholen, später einmal. Ich habe fest daran geglaubt. Ich habe es ihnen versprochen.
– Wir werden diese Männer finden, Dunja. Sie werden dafür bestraft, was sie getan haben. Und du wirst ein Leben bekommen, dafür werde ich sorgen. Und du wirst auch deine Eltern wiedersehen.
– Warum sagst du das?
– Weil ich daran glaube.
– Das ist zu wenig. Du solltest mir keine Hoffnungen machen.
– Doch, das sollte ich. Das will ich. Es kann nur noch besser werden, Dunja. Aber du musst mir alles erzählen, alles, verstehst du, jede Kleinigkeit, alles, was dir einfällt, alles, was irgendwie seltsam war in dem Hotel. An dem Abend, bevor es anfing. Solange ich nicht irgendetwas Konkretes habe, kann ich nicht offiziell ermitteln, alles, was ich im Moment mache, passiert in meiner Freizeit. Offiziell gibt es dich gar nicht. Also Dunja, komm schon, wir brauchen irgendetwas.
– Wir haben Karten gespielt an dem Abend. Ilena und ich. Es war alles so wie immer. Die Arbeit war getan, das Personalhaus war schön. Wir hatten sogar einen kleinen Pool, dem Hotelier war es wichtig, dass wir glücklich sind.
– Wie war er?
– Gut.
– Johannes Schönborn?
– Ja.
– Er ist heute in der Politik, das Hotel gehört ihm nicht mehr, er hat es vor vier Jahren verkauft.
– Warum fahren wir dann da hin?
– Damit dir alles wieder einfällt.
– Da ist nichts. Wie oft denn noch? Ich bin eingeschlafen, und als ich aufgewacht bin, war ich in dem Keller. Ich bin im Hotel eingeschlafen und nicht wieder dort aufgewacht. Bei Ilena und Youn war es genauso.
– Die beiden anderen.
– Ja. Ilena war mit mir im Bus.
– Im Bus aus Moldawien.
– Ja.
– Wo ist sie jetzt?
– Sie ist tot.
– Tot?
– Sie ist verblutet.
– Warum? Was ist passiert?
– Sie hat ein Kind bekommen. Wir waren ganz allein – Youn und ich, wir haben ihr versucht zu helfen, aber es hat nicht aufgehört zu bluten.
– In dem Keller.
– Sie ist in meinen Armen gestorben. Youn hat das Kind gehalten.
– Dunja?
– Ja.
– Das ist die Wahrheit?
– Ja.
– Du musst mir bitte sagen, ob das wirklich alles wahr ist.
– Wie oft denn noch?
– Du erzählst mir, dass deine Freundin ein Kind geboren hat und dabei in deinen Armen gestorben ist. Irgendwo in einem Keller, in dem
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