Totenfrau
kleinen zufriedenen Gesichter, bevor sie wieder zu ihm geht. Die Treppe hinunter. Zum Kühlraum. Zur Tür, die sie langsam öffnet. Schönborn. Wie lange sie einfach nur dasteht und ihn anstarrt. Sie bewegt sich nicht, sie schaut nur. Weil sie es weiß. Dass sie zu lange gewartet hat, zu lange bei den Kindern gewesen ist. Sie hätte früher kommen sollen, ihn aufwecken, seinen Kreislauf wieder in Gang bringen. Es war zu kalt, fünf Grad über vier Stunden lang, das GBL, die Kopfwunde. Blum hat es sofort gesehen, als sie die Kühlraumtür geöffnet hat. Dass er nicht mehr atmet. Dass sein Brustkorb sich nicht mehr hebt. Er gleicht all den anderen, die sie gesehen hat in ihrem Leben, leblose Leiber, ein kaltes Stück Fleisch, Haut und Knochen. Kein Herz schlägt mehr im Kühlraum, da ist kein Lebenszeichen, nur den Motor der Kühlung kann man hören. Da ist nur sein Gesicht, sein Mund, der offen steht. Ohne Worte offen. Weil er tot ist.
Blum weiß nicht mehr, wie lange sie dastand und nichts tat. Eine halbe Stunde vielleicht oder länger. Wie gelähmt. Verzweifelt versucht sie zu begreifen, dass sie selbst dafür verantwortlich ist. Für sein Schweigen. Dafür, dass er tot ist. Sie schaut nur. Und ihr ist kalt. Eiskalt. Sie zittert. Sie steht nur da. Dann wählt sie Massimos Nummer. Bitte komm zu mir , sagt sie. Ich bin in zwanzig Minuten bei dir, sagt er.
22
Mitten in der Nacht. Massimo ist weg, überall ist Blut. Der Hydroaspirator saugt und saugt. Blum hat den Bauchraum aufgemacht, sie hat ihn aufgeschnitten, aufgefaltet. Blum entfernt den Darm, nimmt ihn aus dem Bauchraum und legt ihn in einen blauen Müllsack. Nieren, Leber, alles, was sie findet, stopft sie in den Sack. Mit einer Klemme fixiert sie den Sauger im Bauchraum, Unmengen von Blut und anderen Körperflüssigkeiten verschwinden durch den Schlauch in der Kanalisation. Mit einem Seitenschneider öffnet sie den Brustraum, sie entfernt Herz und Lunge, sie leert den Rumpf, bevor sie ihn in kleine Teile zersägt. Mit Hagens Motorsäge durchtrennt sie die Knochen, das Blut spritzt, es rinnt in die Wanne, sie saugt es ab, es ist überall, sein Fleisch, sein Fett, sein widerlicher Kopf, den sie einfach absägt. Schönborn. Ohne Mitleid, ohne Zögern zerlegt sie ihn, sie schneidet ihn in Teile und verpackt sie, ordentlich und sauber, getränkt in einer Formalinlösung. Blum konserviert ihn, sie will nicht, dass er zu stinken beginnt, dass man ihn riechen kann.
Bis es hell wird, verpackt sie und putzt. So schnell sie es kann, mit all ihrer Kraft. In wenigen Stunden kommt Reza aus Bosnien zurück, zwei Verabschiedungen stehen an, zwei Beerdigungen am Nachmittag. Er darf nichts ahnen, nichts vermuten, sie muss alles so hinterlassen, wie es gewesen ist, bevor er wegfuhr. Die Särge im Kühlraum, Blum holt sie heraus. Die Idee war ihr plötzlich in den Sinn gekommen. Als sie nackt neben Massimo lag. Haut an Haut, zwei Menschen, ganz nah, eng beieinander. Blum sah es vor sich, während Massimo sie streichelte. Schönborns Beine, die Organe und sein Kopf in den Sarg mit der älteren Dame. Die Teile seines Rumpfes und die Arme in den Sarg mit dem verunglückten Bergsteiger. Edwin Schönborn, verpackt und konserviert, versteckt unter weißen Decken mit barocken Borten. Es ist die rettende Idee, die einzige Möglichkeit, dem Gefängnis zu entgehen, die Mädchen nicht im Stich zu lassen. Sie musste es tun. Massimo nach Hause schicken. Nach unten gehen. Das Skalpell nehmen.
Blum nimmt die Päckchen und verstaut sie in den Särgen. Sie klemmt die Leichenteile zwischen die Beine der Verstorbenen, sie bindet sie fest, versteckt sie. Alles von ihm, für immer verborgen. Blum schließt die Deckel und schraubt sie zu. Niemand wird ihn jemals finden, die Idee ist brillant. Es gibt keinen besseren Platz für eine Leiche als einen Sarg, einen Friedhof. Niemand wird im Grab einer alten, jungfräulichen Lehrerin nach ihm suchen. Niemand wird das nur eine Sekunde lang annehmen. Blum lächelt. Erschöpft, aber glücklich schiebt sie die beiden Särge wieder in den Kühlraum. Nichts ist passiert. Alles ist gut.
23
Keiner hat etwas bemerkt. Niemand weiß, dass Massimo nackt neben ihr gelegen hat. Dass sie sich geküsst haben. Die Kinder ahnen nichts, auch Karl nicht, er hat geschlafen, tief und fest in seinem Sessel. Blum hat ihn zugedeckt, bevor sie zurück zu den Kindern geht. Sie liegt neben ihnen, als sie die Augen aufmachen, sie lächelt sie an. Mama passt auf euch auf. Mama hat
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