Totenfrau
nach ihrem eigenen Geschmack, nicht nach Hagens. Jetzt wird sie es tun, Jaunig hat ihr einen Grund gegeben, das Feuer. Im Frühjahr wird sie alles neu einrichten, die alten Möbel auf den Müll bringen. Sie wird sich einen Traum erfüllen, sich ein kleines Nest bauen. Segeln mit den Kindern im Mai. Alles, was jetzt noch vor ihr liegt, wird vergangen sein. Nichts mehr wird daran erinnern. An Jaunig. Nichts mehr.
30
Blum schaut zu. Seit über zwei Stunden schon sitzt sie auf der Bank am Domplatz und wartet. Es ist früher Morgen, sie ist die ganze Nacht durchgefahren. Von Triest nach Innsbruck in vier Stunden und vierundzwanzig Minuten. Sie wollte zu ihren Kindern, zu ihrer Familie, sie wollte sich endgültig von Jaunig verabschieden, ihn loswerden. Auch den letzten Rest von ihm. Noch hat niemand den Sack gesehen. Bis jetzt noch nicht. Ein Plastiksack aus dem Supermarkt. Ein Sack, der dort nicht hingehört, der auffällt. Der danach schreit, heruntergenommen zu werden von der Domtür. Blum hat ihn vor zwei Stunden dort hingehängt und sich auf die Bank gesetzt. Bis jetzt wartet sie. Dass etwas passiert. Dass jemand kommt und ihn findet.
Blum. Gestern noch war sie am Meer. Da war Sonne. Es war wunderschön, sie hat sich einfach treiben lassen, den ganzen Tag auf dem Wasser. Erschöpft und glücklich. Was sie getan hatte, es war gut. Jaunig war tot. Verbrannt lag er vor ihr. Seine Kleidung, die Haut, seine Haare, die Kopfhaut. Nur wenige Male in ihrem Leben hat Blum Brandopfer auf dem Versorgungstisch gehabt. Sie ging nach unten und starrte ihn an. Sie war fasziniert von dem, was das Feuer in nur zwei Minuten aus ihm gemacht hatte. Aus seinem Gesicht, aus seinen Händen, überall wo sein Körper schutzlos dem Feuer ausgesetzt war, hatte es ohne Mitleid zugeschlagen, ihn verstümmelt. Jaunig. Ein toter Priester, dem Blum den Kopf abschlug.
Alles war einfach, alles funktionierte reibungslos, sie stellte den Kübel unter den Tisch und hieb zu. Mit einer Axt, so lange, bis der Kopf nach unten fiel. Das Blut fing sie im Kübel auf. Alles war gut. Alles, was sie tat, war richtig. Sie musste die Leiche verschwinden lassen, sie musste sauber machen, das Blut wegwischen. Es war nur ein kleiner Kajütenbrand, ein Unfall in der Messe, eine Kerze, die sie vergessen hatte. Der Ruß an der Decke, der verkohlte Tisch. Blum putzte, sie schrubbte. Beinahe machte sie alles ungeschehen. Jaunigs Kopf steckte sie in einen Plastiksack. Seinen Körper warf sie zu den Haien.
Mark hatte ihr von ihnen erzählt. Dass es sie tatsächlich gab, vor der Küste Triests, dass sie mit den Frachtern vom offenen Meer bis ans Land kamen. Haie, die die Urlauber bedrohten, Haie, die man mit Gittern von den Badestränden fernhielt. Dort, wo Blum mit ihrem Boot trieb, schwammen sie, unter ihr, vierundzwanzig Meter tief das Meer an dieser Stelle. Ein guter Platz für Jaunig. Für seinen Körper, nicht für seinen Kopf. Als das schlimmste Bluten vorüber war, hatte sie ihn mit den Winden nach oben gezogen, einen Körper ohne Kopf, den Blum mit dem Ersatzanker beschwert hatte. Nur ein Körper, den sie ins Wasser warf. Herbert Jaunig. Kopflos.
Blum wollte nicht, dass er einfach so verschwand und alles vergessen war. Sie will, dass man weiß, dass dieser Mann etwas getan hat. Etwas, für das er sterben musste. Blum will mit den Fäusten trommeln, die Kröten aus dem Unterholz jagen, sie aufscheuchen, ihnen Angst machen. Irgendetwas würde passieren, irgendetwas, das ihr sagt, was als Nächstes kommt. Jaunig ist tot. Er hat lieber geschwiegen, als zu reden. Es einzugestehen. Was er getan hat. Dass es Sünde war. Kein Wort, keine Namen. Blum hat nichts erfahren. Nur dass Jaunig dabei gewesen war und dass er von Marks Tod gewusst hat. Dass er sich lustig darüber gemacht hat. Jeden Verlust kann man überwinden, Sie müssen wieder nach vorne sehen, das Leben wieder zulassen . Blum hört ihn immer noch. Was er zu ihr gesagt hat. Und das Geräusch, das das Feuerzeug macht.
Vor zwölf Stunden war sie noch auf dem Meer. Jetzt starrt sie auf den Sack. Sie sitzt unter einem Baum, fünfzig Meter von Jaunigs Kopf entfernt. Man sieht sie nicht auf den ersten Blick. Sie passt in dieses friedliche Bild. Der Dom, der Platz, der Brunnen. Und Blum. Eine Frau, die ein Buch liest am Morgen. Eine Frau, die darauf wartet, dass jemand diesen beschissenen Kopf aus dem Sack zieht.
31
Ein vierundachtzigjähriger Mann, der sich erhängt hat. Reza und Blum haben ihn vom Dachbalken
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