Totenfrau
ich kann ihn seit Tagen nicht erreichen. Ich will wissen, was hier los ist.
– Wenn Sie mich noch einmal anfassen, schreie ich.
– Ich will wissen, wo mein Sohn ist.
– Ich kenne Ihren Sohn nicht.
– Wenn Sie mir jetzt nicht sagen, was Sie wissen, werden Sie es sehr bereuen.
– Sie drohen mir?
– Ja.
– Weil Sie Angst haben. Das ist gut.
– Lächerlich. Wovor sollte ich denn Angst haben? Ich bin hier, weil ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Es ist ungewöhnlich, dass Edwin ohne ein Wort verschwindet. Und Sie haben nach ihm gefragt. Auch nach dem Priester haben Sie gefragt. Das ist kein Zufall.
– Den Priester haben Sie ins Spiel gebracht, nicht ich.
– Und jetzt ist er tot.
– Also doch Angst?
– Jetzt hören Sie endlich auf. Sie belästigen mich während des Mittagessens, bombardieren mich mit Vorwürfen, irgendetwas stimmt nicht mit Ihnen.
– Wenn Sie meinen.
– Ich weiß, wer Sie sind.
– Schön für Sie.
– Sie sind Bestatterin.
– Bravo. Gut recherchiert. Bestattung Blum, ein Traditionsunternehmen. Sie können gerne bei uns einzahlen und Ihr Begräbnis vorab im Detail planen. Ich werde mich gerne persönlich um alles kümmern.
– Sie sagen mir jetzt, was Sie von mir wollen. Was Sie über meinen Sohn wissen, wo er ist. Warum Sie in altem Dreck wühlen.
– So alt ist der Dreck nicht. So wie es aussieht, stecken Sie nach wie vor mittendrin.
– Sie sollten beten, dass meinem Sohn nichts zugestoßen ist.
– Beten hilft nicht, glauben Sie mir.
– Wenn Sie irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun haben, werde ich Sie fertigmachen.
– Sperren Sie mich dann auch in einen Käfig?
– Dieses Grinsen wird Ihnen noch vergehen.
– Dass es so einfach sein kann, habe ich nicht gedacht.
– Ich werde Sie nicht mehr aus den Augen lassen.
– Vater und Sohn. Der Jäger und der Fotograf. Und der Dorfpfarrer. Was für ein Trio! Fehlen nur noch der Koch und der Clown.
– Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Aber ich verspreche Ihnen, ich werde es herausfinden.
– Nur zu.
– Wir werden uns wiedersehen.
Er drehte sich um und ging. Was sie noch sagen wollte, schluckte sie hinunter. Was er gesagt hatte, spukte ihr im Kopf herum. Dass er wusste, wer sie war, dass er sich die Mühe gemacht hatte, es herauszufinden. Blum wollte daran glauben, dass Johannes Schönborn der Jäger war. So einfach wäre es, so naheliegend. Vater und Sohn. Während sie mit ihm sprach, sah sie ihn bereits auf ihrem Tisch liegen, in Gedanken schnitt sie ihm Beine und Arme ab, sie zerlegte ihn wie ein Stück Wild. Kurz glaubte sie an seine Schuld. Aber er hatte nichts damit zu tun. Sie spürte es. Johannes Schönborn gehörte nicht zu den Männern im Keller. Sein Gesicht hatte es verraten. Im Restaurant und auch jetzt, sein Erstaunen war echt gewesen, die fragenden Augen. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Keine Ahnung von den Käfigen, den Betäubungspfeilen, auch die drei Namen waren ihm kein Begriff gewesen. Der alte Schönborn war einfach nur beunruhigt. Er machte sich Sorgen, er wollte seinen Sohn zurück. Er wird am Leben bleiben, sie wird ihn nicht zerteilen, ihn nicht gemeinsam mit der Leiche begraben, die sie abholen muss.
Blum im Auto auf dem Weg zur Gerichtsmedizin. Ein Toter aus der Klinik wartet auf sie, eine Routineobduktion. Sie parkt vor dem Tor, steigt aus und wartet auf den Mitarbeiter, der die Leiche aushändigt. Wie oft sie schon dort war, wie vertraut alles ist. Die Kühlschränke, die Toten, die auf den Gängen herumstehen. Nichts macht ihr Angst, es sind nur Leichen, Unbekannte in Säcken, geöffnet und zugenäht. Fremde, die sie emotional nicht berühren, einfache Transporte. Körper von Kühlschrank zu Kühlschrank. Nicht mehr. Nicht weniger.
Blum geht den Gang auf und ab. Sie denkt daran, dass der Tag gut begonnen hat, sie denkt an Jaunigs Arbeitszimmer, an die Speisekarte, die auf seinem Schreibtisch lag. Sie hofft, dass sie Recht hat mit dem, was sie glaubt. Es ist ihr Bauchgefühl, das sie antreibt, seit sie mit Massimo Jaunigs Wohnung verlassen hat. Während sie wartet, überlegt sie, was sie als Nächstes tun wird. Ein paar Minuten noch, hieß es. Warten. Nachdenken. Warten. Auf und ab gehen. Dann ist sie plötzlich da. Neben ihr das vertraute Gesicht, ihr Körper, ihre Haare. Blums Blick streift sie kurz, fast wäre sie vorbeigegangen, hätte sie unter der Plastikfolie nicht erkannt. Blum bleibt stehen. Sie liegt in einem Plastiksack, ihr Brustkorb
Weitere Kostenlose Bücher