Totenfrau
aufgeschnitten, weiße Haut. Eine Wasserleiche. Blum kann es anfangs nicht einordnen, nicht verstehen, was sie sieht. Dass sie tot daliegt, im Keller der Gerichtsmedizin. Einfach so, auf einer Bahre, weil im Kühlschrank kein Platz mehr für sie ist. Blum steht da und will schreien, aber sie kann es nicht. Weil es plötzlich kalt wird. Und still. Es ist nur eine Leiche mehr, ein Körper, den niemand vermisst. Niemand kennt sie. Nur eine namenlose Frau. Dunja.
Kein Wort. Alles still. Lange ist da nichts. Nur Dunja. Nur sie. Nicht fähig zu reagieren, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur Dunja. Und alles, was war. Wie sie sie kennengelernt hat. Zuerst nur eine Stimme, dann ein Gesicht, dann sogar ein Lächeln. Blum starrt sie an. Da war kein Wort, das geholfen hätte, kein Gedanke, der es ungeschehen machen könnte. Blum zwingt sich, nicht zu weinen, keine Gefühle zu zeigen. Sie will nicht, dass jemand merkt, dass sie sich kannten, dass sie etwas miteinander verbindet. Der Obduktionsassistent zieht Blum von Dunja weg, er ist sichtlich irritiert, weil sie wie angewurzelt vor der Leiche dieser Frau steht, weil ihr Blick so starr ist, so leer. Er fragt sie, ob es ihr gut gehe, ob er ihr helfen könne, ob sie ein Glas Wasser wolle. Sie winkt ab, sie tut, als sei alles in Ordnung. Sie übernimmt die Leiche, wegen der sie eigentlich gekommen ist, und fährt davon.
Dunja. Der Obduktionsassistent hat alle ihre Fragen beantwortet. Er wusste zwar nicht, warum sie das alles wissen wollte, aber hat es getan. Es war wahrscheinlich Selbstmord. Oder ein Unfall. Die Obduktion bestätigt, dass sie ertrunken ist, ohne Zweifel. Ein Fremdeinwirken wird ausgeschlossen. Schon öfters wurde jemand gefunden im Rechen des Innkraftwerkes. Dort, wo Bäume und Müll landen, holt ein Bagger sie aus dem Wasser. Alle paar Wochen wird der Rechen von Treibgut befreit, nur durch Zufall werden sie entdeckt. Eine Wasserleiche mehr, wahrscheinlich eine Obdachlose, keine Papiere, keine Vermisstenmeldung, niemand, der sie kennt. Wahrscheinlich war sie betrunken und ist gestürzt. Oder sie hat das Leben nicht mehr ausgehalten und ist gesprungen. Wie auch immer, tot ist tot , hat der Obduktionsassistent gesagt.
Blum. Im Leichenwagen mit einer Frau Mitte fünfzig. Ein Infarkt nach einer Lungentransplantation, die Angehörigen haben ihre Kleider bereits ins Institut gebracht. Blum auf dem Weg nach Hause. Sie wird sie aus dem Plastiksack schälen, sie waschen, ihre Wunden versorgen, ihren Mund zunähen. Sie wieder anziehen. So gerne würde sie das auch für Dunja tun. Sie pflegen, ihren geschundenen Körper mit ihren Händen berühren, ihr einmal noch Zärtlichkeit schenken, Respekt. So gerne. Doch Dunja muss bleiben, wo sie ist. Sie kommt in den Langzeitkühlraum, die Temperatur ist dort tiefer, oft liegen die Leichen monatelang dort. Alle, die man nicht identifizieren kann. Mordopfer, die aus ermittlungstechnischen Gründen nicht freigegeben werden. Opfer wie Jaunig. Mit großer Wahrscheinlichkeit kommt Dunja in denselben Kühlschrank wie er. Täter und Opfer, friedlich übereinandergestapelt. Das Schicksal ist grausam. Und Blum kann nichts dagegen tun. Mit Anlauf in ein Becken ohne Wasser. Kopf voraus, ohne Luft zu holen fällt sie. Blum im Leichenwagen durch die Stadt. Still fallen ihre Tränen.
34
Wie viele Tränen man hat. Wenn man sie zählen könnte. Sie auffangen, einen Becher vollmachen, einen Kübel. Ein Schwimmbecken voll mit Tränen. Damit es nicht mehr wehtut, wenn sie landet. Kopf voraus. Blum. Drei Tage ohne Atem, sie macht ihre Arbeit, sie bleibt bei den Kindern, sie versucht, weiterzuleben. Die Traurigkeit ist wieder da. Sie lähmt. Dass Blum Dunja nicht hat helfen können, ist hart für sie. Sie hätte besser aufpassen müssen, sie beschützen müssen. Blum hat versagt. Sie hätte sie nicht alleine in den Supermarkt gehen lassen dürfen. Sie könnte noch leben. Die Vorstellung tut weh. Dass Dunja tot ist. Von Moldawien in den Keller, vom Keller in den Kühlschrank. Jahrelang nichts Schönes, nur Angst. Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Angst, dass es wieder passiert. Angst, dass sie gefunden wird. Angst, dass sie nicht vergessen wird. Dass es niemals weggeht. Nicht aus ihrem Kopf geht, aus ihrem Körper. Angst.
Seit drei Tagen denkt Blum darüber nach. Rückzug oder Angriff. So tun, als würde alles besser werden, oder alles entzweischlagen? Drei Tage Stillstand, Auszeit. Die Wut in ihr formiert sich wieder, der Hass auf die, die
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