Totenfrau
Sie können nur warten, nichts tun, nur warten. Immer wieder ruft Massimo an, immer wieder drückt sie ihn weg. Er macht sich Sorgen um sie. Es wird Nachmittag, es wird Abend, sie verstecken sich. Bis es dunkel wird, bleiben sie, immer noch hoffen sie, dass die Familie gleich vom Einkaufen zurückkommt, dass sie um die Ecke biegt und sie endlich tun können, was sie vorhaben. Doch nichts passiert. Das Haus bleibt leer. Und Blum hat Hunger. Sie macht sich Sorgen um die Kinder, sie ist müde und ungeduldig, sie will es hinter sich bringen. Und sie beginnt zu hassen, dass Reza schweigt. Dass er nichts sagt, den ganzen Tag beinahe kein Wort. Er sitzt neben ihr und starrt auf das Haus. Was in seinem Kopf vorgeht, erfährt Blum nicht. Ihren Ärger darüber, dass sie einen ganzen Tag vergeudet haben, teilt er nicht. Sein Gesicht ist ruhig, keine Wellen, kein Wind. Reza hat eine Aufgabe. Er wartet auf Benjamin Ludwig. So lange, bis er kommt. Sich nicht wegbewegen, keinen Schritt. Bis es erledigt ist. Blum weiß, dass er die ganze Nacht hier sitzen würde, deshalb zieht sie ihn hoch und bringt ihn dazu, zu gehen. Mit ihr den Hügel hinunter, irgendwo in ein Hotel, in ein Restaurant, Blum will sich ausruhen. Einen Moment lang nicht an Ludwig denken, an Dunja, an Mark. Sie will ausatmen, kurz mit Karl telefonieren und etwas trinken. Auszeit. Pause. Morgen ist auch noch ein Tag, sagt sie.
Reza und Blum an der Rezeption eines kleinen Hotels. Blum überlegt nicht, sie tut es einfach, aus dem Bauch heraus. Ein Doppelzimmer bitte. Für eine Nacht. Ein Gefühl sagt ihr, dass es richtig ist. Sie will nicht allein sein, Reza nicht gehen lassen. Er steht neben ihr. Er sagt nichts. Stilles Einverständnis. Reza bleibt bei ihr. Neben ihr an der Bar, weil Blum noch nicht schlafen will, weil sie sich Sorgen macht um die Kinder. Sie hat mit Karl telefoniert, ihm gesagt, dass sie später kommt, ihn gebeten, dass er die Kinder noch über Nacht nimmt und auch am nächsten Tag. Karl sagt nicht sofort Ja, so wie sonst. Er zögert, sie hat ihn überrascht. Irgendetwas stimmt nicht. Er hat andere Pläne für den nächsten Tag. Sie spürt es. Doch Karl will Blum nicht beunruhigen, ihr keinen Wunsch abschlagen, sie unterstützen, so gut er es kann. Wir bekommen das schon hin , sagt er. Mach dir keine Sorgen, Blum. Du erledigst, was du zu erledigen hast, und dann kommst du wieder. Dann legt er auf und lässt sie mit Reza allein.
Gemeinsam an der Bar, weil sie noch nicht schlafen will. Blum will noch nicht ins Zimmer, sich neben ihn legen. Sie sprechen nicht darüber. Über das Zimmer, über ihren Wunsch, nicht allein sein zu müssen. Reza macht es ihr leicht, er tut so, als wäre es das Normalste auf der Welt, als wären sie Freunde, die sich nur ein Zimmer teilen. Mehr nicht. Er bestellt Wein für Blum und Bier für sich. Mit jedem Schluck geht sein Mund ein Stück weiter auf, er nimmt Blums Bitte, nicht über Ludwig zu reden, ernst. Reza spricht über die Kinder, über die neue Sargkollektion und darüber, dass man den Versorgungsraum renovieren könnte. Es ist schön. Irgendwo in einem Hotel in Bogenhausen. Sie plaudern, sie trinken, Benjamin Ludwig ist nicht wichtig. Gar nichts ist wichtig. Worüber sie reden, ist belanglos. Es tut nichts weh, nichts bedroht sie. Ein Glas nach dem anderen trinken sie, alles ist einfach und leicht. Reza bringt Blum zum Lachen. Sie erinnern sich an skurrile Sterbefälle, an ausgefallene Sonderwünsche und anstrengende Angehörige. Der Berufsalltag hilft ihnen durch den Abend. Was sie seit sieben Jahren teilen, die Zeit im Versorgungsraum, die unzähligen Abholungen, die Zeit auf dem Friedhof. Reza war immer da. Reza bestellt Wein und Bier. Reza lächelt. Und dieses Lachen tut gut. Was sie verbindet, ist mehr als Arbeit. Blum umarmt ihn. Komm, tanz mit mir , sagt sie.
In der kleinen Hotelbar. Zwischen Stühlen und Tischen. Obwohl Reza nicht tanzen kann, lässt er sich überreden. Kurz wehrt er sich, versucht zu entkommen, dann aber fügt er sich. Blum strahlt ihn an. Einfach tanzen. Die Augen schließen. Sich führen lassen von ihm. Die Musik hören in seinen Armen. Spüren, ob er sie halten kann. Reza. Dass er mehr sein kann als nur ihr Mitarbeiter, als ein Freund, der Schützling ihres Mannes. Es war Blum nie in den Sinn gekommen. Keine Sekunde lang. Dass er ein Mann war. Einer, der sie berühren kann. Halten kann. Sein Atem ganz nah. Sie drehen sich. Langsam und lange. Reza bewegt sich vorsichtig zwischen den
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