Totenfrau
rätselt, Blum sieht es. Seine Angst, er steigt von einem Bein auf das andere, er will weg. Rennen, schnell und weit, doch da ist die Waffe in Blums Hand. Ich werde schießen , sagt Blum.
Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie wollte nicht. Dass dieses Gefühl aufhört, dass Reza aufsteht, weggeht. Sie wollte es einfach spüren, so lange wie möglich, bis zum Morgen, bis er die Augen wieder aufschlug. Wie seine Finger wieder begannen, sich auf ihrem Rücken zu bewegen. Reza machte weiter, wo er aufgehört hatte. So lange, bis sie sagte, dass es Zeit war. Um wieder zurückzugehen. Zu dem Haus, zurück in diesen Albtraum. Zurück, um zuzusehen, wie Reza ihn mit einem Ruder niederschlägt. Wie er ihn mit Klebeband zusammenschnürt. Hände und Füße. Blum und Reza. Die Nacht vermischt sich mit dem Tag, das Leben ohne Mark mit dem Leben, das sie jetzt hat. Dieses Leben, in dem Menschen sterben. Dann, wenn sie es will.
Blum steht da und schaut zu. So, als hätte sie mit alldem nichts zu tun, als wäre sie eine Passantin, die zu einem Unfall kommt. Eine Schaulustige, die ihre Neugier stillt. Ein Ruderboot, ein kleines Elektroboot, und Benjamin Ludwig, wie er schreit. Er kommt wieder zu Bewusstsein und spürt das Klebeband, er begreift, wie ausweglos alles ist. Er kann sich nicht mehr halten, er muss etwas tun. Zuerst flucht er, will sich mit Worten befreien, er beschimpft sie. Dann beruhigt er sich, atmet tief ein und aus, er sammelt sich. Der Schauspieler, der Übungen macht, bevor er antritt, um seine Rolle zu spielen, um die Wahrheit zu sagen. Sich um sein Leben zu reden, weil er ahnt, was kommt, weil er weiß, dass die anderen tot sind, verschwunden. Weil er weiß, dass die beiden es ernst meinen. Blum. Man kann es in ihrem Gesicht lesen, da ist nichts, das ihm Hoffnung macht, das Einzige, was er tun kann, ist reden. Nicht lügen. Nur die Wahrheit. Wenn du lügst, bist du tot . Sie setzt sich neben ihn auf den Boden. Die Pistole in ihrer Hand. Ganz nah ist sie. Sie drückt den Lauf an Ludwigs Stirn.
Blum redet mit ihm. Reza zieht sich zurück. Blum flüstert. Du beantwortest meine Fragen. Kurz und bündig. Ich werde nicht zweimal fragen. Seine Versuche, sein Leben zu retten, ignoriert sie. Seine Fragen bleiben unbeantwortet. Was haben Sie mit mir vor? Was wollen Sie von mir? Warum tun Sie das? Wo sind Schönborn und Puch? Sie haben sie entführt. Sind sie noch am Leben? Sind sie tot? Keine Antworten, nur Fragen. Die Pistole an seiner Stirn und die Wahrheit. Kurz und bündig alles über diesen Keller, wo er sich befindet, wie es dazu gekommen ist, warum sich fünf Männer dazu entschlossen haben, alle Hemmungen fallen zu lassen. Wie Tiere zu sein. Brutal, ohne Regeln. Blum will es wissen, etwas in ihr will das Unfassbare verstehen, begreifen, wie so etwas passieren kann. Wie aus einer Idee grausame Wirklichkeit wurde. Ein Ort, an dem alles erlaubt war. Sex mit dem Jungen. Gewalt, Erniedrigung, Strafe und Buße. Fünf Jahre lang. Antwort für Antwort. Der Keller ist in Kitzbühel. Unter dem Restaurant. Das Haus gehört mir. Es war unser Ferienhaus. Wir haben es umgebaut. Es war Puchs Idee. Wir waren betrunken. Er hat sich das alles ausgedacht. Gutes Essen. Danach das Vergnügen im Keller. Fünf Männer, die sich einen Traum erfüllt haben. Fünf Männer im Glück.
Wort für Wort. Mehr und mehr keimt er in Blum, der Wunsch, einfach abzudrücken, ihn zum Schweigen zu bringen. Klick. Schuss und Ende. Doch sie will mehr. Sie will wissen, wo der Junge ist. Ob er noch lebt. Was sie mit ihm gemacht haben. Ich weiß es nicht, sagt er. Ich weiß es wirklich nicht. Der Keller ist leer. Die Möbel sind auf dem Müll, die Käfige. Es ist alles weg, alles leer. Da ist nichts mehr. Ich weiß nicht, wo der Junge ist. Ich weiß es nicht. Sie müssen mir glauben. Er war einfach nicht mehr da. Antworten im Bootshaus. Nichts mehr in Kitzbühel, das sie finden kann. Nichts mehr, das beweist, dass es wirklich passiert ist. Nur Fotos und Filme. Und das, was Benjamin Ludwig sagt. Die traurige Wahrheit, die Bestätigung dessen, was sie bereits weiß. Dass er sie gejagt hat. Auf sie geschossen hat. Dass er immer wieder dieses Lied gesungen hat. Dass es immer wieder von vorne begonnen hat. Die Hölle für Dunja. Für Ilena. Für Youn. Weil diese Männer irgendwann damit begonnen haben, Grenzen zu überschreiten. Sie waren über einen Zaun gestiegen, zurück konnten sie nicht. Deshalb gingen sie immer weiter. Sie integrierten den
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