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Totengeld

Totengeld

Titel: Totengeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
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viel schlimmeren Zustand, als ich befürchtet hatte.
    Ich schickte ein zuversichtliches Lächeln zu den Gesichtern im Fenster. Zuversicht, die ich nicht hatte.
    »Fertig?« Zu Blanton, während ich einen Latexhandschuh aufblies.
    »Kann losgehen.«
    Blanton schaltete den Camcorder ein. Ich zog mein iPhone aus der Tasche und diktierte Zeit, Datum, Ort und die Namen der Anwesenden. Dann zog ich mir die Schutzmaske vors Gesicht.
    Als ich den Leichensack öffnete, wehte ein modriger, erdiger Geruch heraus. Behutsam wickelte ich das Leichentuch auf.
    In einem Jahr hatte Mutter Natur ihr unvermeidliches Wunder vollbracht. Fragmente von Bindegewebe waren noch vorhanden, hier und dort ein Band zwischen Fingergliedern, ein Gewebestreifen über einer Gelenkkapsel. Ansonsten war das Fleisch verschwunden.
    Doch was die Zeit und die Wüste übrig gelassen hatten, hatte die Erdlawine in Sekunden zerstört.
    Kein Teil von Abdul Khalik Rasekhs Schädel oder Unterkiefer maß mehr als maximal fünf Quadratzentimeter. Ich erkannte einen Teil eines Augenhöhlenbogens, den Splitter eines Jochbogens, einen Warzenfortsatz, ein Kiefergelenkköpfchen, einzelne Zähne.
    Das übrige Skelett sah nicht viel besser aus. Oberschenkelknochen und Schienbeine waren intakt, der Rest der Beinknochen aber zerbrochen. Das Becken war zertrümmert.
    Der Brustkorb und die oberen Glieder hatten am meisten gelitten. Armknochen, Schlüsselbeine, Brustbein, Wirbel und Rippen waren praktisch pulverisiert.
    Was nicht gut war.
    Marines lernen, immer auf das Zentrum eines Objekts zu zielen. Stellen Sie sich einen menschlichen Torso vor. Ziehen Sie eine Linie von Brustwarze zu Brustwarze, dann zwei andere von jeder Brustwarze zur Kehle. Jede Kugel, die diesen Bereich trifft, hat Kampfunfähigkeit durch Lähmung, Schock oder Tod zur Folge. Das Dreieck des Todes.
    Rasekhs Dreieck war ein Trümmerhaufen, entweder durch die Wucht der Kugeln oder den Geröllhagel.
    Tief durchatmen. Den Beobachtern zunicken.
    Ich suchte alle noch erkennbaren Elemente heraus und arrangierte sie zu einer Art makabrem Skelett. Während ich jedes Fragment an seinen Platz legte, untersuchte ich es nach Hinweisen auf Schussverletzungen.
    Um konzentriert zu bleiben, rief ich mir das Basiswissen wieder ins Bewusstsein.
    Schusswunden werden kategorisiert nach der Entfernung zwischen Schütze und Opfer. Ein Kontaktschuss, bei dem die Waffe ins Fleisch gedrückt wird, kann Ruß, einen Mündungsabdruck oder sogar eine durch die Treibgase der Patrone erzeugte Platzwunde hinterlassen. Man nennt das auch einen aufgesetzten Schuss. Ein Schuss aus mittlerer Entfernung, bei dem der Schütze relativ nah am Opfer steht, kann eine Tüpfelung, auch Pulvertattoo genannt, hinterlassen. Bei einem Schuss aus größerer Entfernung ist der Bereich der Pulvertüpfelung deutlich erweitert.
    Doch das alles war hier unwichtig. Es gab ja kein Fleisch mehr. Und nach den Zeugenaussagen war Gross zwischen zehn und fünfzehn Meter von Aqsaee und Rasekh entfernt gewesen.
    Und ich sah rein gar nichts.
    »Mit was für einer Waffe hat Gross geschossen?«, fragte ich. Ich erinnerte mich zwar an die NCIS -Akte, wollte mich aber der grundlegenden Tatsachen versichern.
    »Einer M16. Standardwaffe der Marines.«
    »Wie viele Schüsse?« Ich redete auch, um meine Nervosität zu überspielen.
    »Die M16 hat ein 30-Schuss-Magazin. Gross hat seins komplett leer geschossen.«
    Das war Overkill, auch bei zwei Zielen.
    »Was für Munition?«
    »NATO-Standard 5,56 Millimeter.«
    »Geschwindigkeit?«
    »940 Meilen pro Sekunde. Alles unter tausend: Popcorn!«
    Auf seine nicht sehr charmante Art spielte Blanton auf eine Ereignissequenz an, die bei gewissen Typen von Projektilen auftritt. Wenn die Kugel taumelt oder giert, also sich dreht, kann sie beim Aufprall zersplittern, was Metallsplitter ins umgebende Fleisch jagt. Diese Art von Wunde kann viel mehr Schaden anrichten als ein glatter Durchschuss.
    »Steht in den Zeugenaussagen irgendwas über die Schussabfolge?«, fragte ich.
    Blanton schaute in seinen Unterlagen nach.
    »Zeugen berichteten, einen Feuerstoß, eine Pause und dann noch einen Feuerstoß gehört zu haben. Aber alle sagen dasselbe. Es herrschte totales Chaos.«
    Ich schaute zu den Abgesandten hoch. Ihre grimmigen, entschlossenen Gesichter klebten noch immer an der Scheibe. Ich stellte mir vor, dass meins ähnlich aussah.
    Als ich den gesamten Inhalt von Rasekhs Leichensack sortiert hatte, formulierte ich während der

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