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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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nicht mehr nach Lachen zumute. Plötzlich stand mir wieder jener erste Nachmittag in Franks Büro vor Augen, so klar, dass ich einen Moment lang Staub und Leder und Kaffee mit einem Schuss Whiskey roch, und zum ersten Mal beschlich mich der Verdacht, dass ich gar nicht richtig gemerkt hatte, was in diesem kleinen sonnendurchfluteten Raum passiert war. Dass ich unbekümmert und arglos an dem eigentlich entscheidenden Augenblick vorbeigehüpft war. Ich hatte stets angenommen, dass ich in den ersten paar Minuten geprüft worden war, mit dem Pärchen auf der Straße oder als Frank fragte, ob ich Angst hätte. Nie war ich auf die Idee gekommen, dass das lediglich die äußeren Tore gewesen waren und die wahre Herausforderung erst sehr viel später erfolgte, als ich schon glaubte, sicher drin zu sein. Dass der geheime Handschlag, mit dem ich die Sache besiegelte, ohne es zu wissen, die Leichtigkeit war, mit der ich bei der Erfindung von Lexie Madison mitgeholfen hatte.
    »Weiß Chad Bescheid?«, fragte ich unvermittelt, als Frank schon auflegen wollte. »Dass May-Ruth nicht May-Ruth war.«
    »Ja«, sagte Frank fröhlich. »Tut er. Ich hab ihm seine Illusionen gelassen, solange es ging, aber diese Woche hat einer von den FBIlern es ihm gesagt. Ich musste wissen, ob er noch was verschweigt, aus Loyalität oder sonst was. Offenbar hatte er nichts verschwiegen.«
    Der arme Teufel. »Wie hat er es aufgenommen?«
    »Er wird’s überleben«, sagte Frank. »Bis morgen.« Und damit legte er auf. Ich blieb noch lange in meinem Baum sitzen und kratzte mit dem Fingernagel Muster in die Rinde.
    Ich begann mich zu fragen, ob ich nicht den Mörder, sondern das Opfer unterschätzt hatte. Ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, war davor zurückgeschreckt, aber ich wusste: Irgendetwas hatte mit Lexie nicht gestimmt, irgendetwas tief in ihr. Ihre Härte, die Art, wie sie Chad ohne ein Wort zurückließ und lachte, wie sie Vorbereitungen traf, Whitethorn House zu verlassen, wie ein Tier, das seine eigene gefangene Pfote mit einem Biss und ohne Wimmern abbeißt, all das hätte pure Verzweiflung sein können. Das verstand ich, ganz und gar. Aber das jetzt, dieser nahtlose Übergang von der lieben, schüchternen May-Ruth zu der quirligen Spaßmacherin Lexie: Das war etwas anderes, etwas Falsches. Es gab keine Angst und keine Verzweiflung, die das erforderlich gemacht hätten. Sie hatte es getan, weil sie es wollte. Eine Frau mit so vielen Geheimnissen und so viel Dunklem in sich wäre durchaus fähig gewesen, bei anderen einen bodenlosen Zorn zu wecken.
    Es ist nicht leicht, hatte Frank gesagt. Aber das war es ja gerade: Für mich ist es immer leicht gewesen. Beide Male war mir die Rolle der Lexie Madison so leichtgefallen wie atmen. Ich war in sie hineingeschlüpft wie in eine bequeme alte Jeans, und genau das hatte mir die ganze Zeit Angst gemacht.

    Erst als ich mich in jener Nacht schlafen legte, erinnerte ich mich: Der Tag im Garten, als es plötzlich klick machte und ich die fünf als eine Familie sah, Lexie als die freche kleine Nachzüglerin. Lexies Verstand hatte sich auf denselben Gleisen bewegt wie meiner, nur tausendmal schneller. Ein Blick hatte genügt, und sie wusste, was die anderen waren und was ihnen fehlte, und dann hatte sie sich schnell wie ein Wimpernschlag dazu gemacht.

13
    Von dem Moment an, als Sam sagte, er wolle die drei Männer vorladen, die er der mutwilligen Sachbeschädigung verdächtigte, hatte ich gewusst, dass das Folgen haben würde. Falls unser Wandbesprüher mit dabei war, dann wäre er überhaupt nicht glücklich darüber, von den Bullen vernommen zu werden, er würde uns die ganze Sache in die Schuhe schieben, und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er das nicht auf sich beruhen lassen würde. Was ich nicht bedacht hatte war, wie schnell der Schlag erfolgen würde und wie hart. So sicher, wie ich mich in dem Haus fühlte, hatte ich vergessen, dass mir schon diese Tatsache an sich hätte eine Warnung sein müssen.
    Er brauchte bloß einen Tag. Wir waren im Wohnzimmer, Samstagabend, kurz vor Mitternacht. Abby und ich hatten uns mit Lexies silbernem Nagellack die Nägel lackiert, saßen auf dem Kaminvorleger und wedelten mit den Fingern, damit der Lack schneller trocknete. Rafe und Daniel lieferten das Gegengewicht zu dieser Östrogenwelle, indem sie Onkel Simons Webley säuberten. Der Revolver hatte zwei Tage lang draußen auf der Terrasse in einer Auflaufform mit Lösungsmittel

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