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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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euch doch so gründlich mit Glenskehy beschäftigt. Habt ihr auch was über seine Herkunft rausgefunden?«
    Sam grinste. »Mein Irisch ist ziemlich eingerostet. Irgendwas mit Weißdorn, glaub ich.«
    Naylor reagierte mit einem knappen ungeduldigen Kopfschütteln. »Nein, nein, nicht der Name. Der Ort. Das Dorf. Glenskehy, was meinen Sie, wie das entstanden ist?«
    Sam schüttelte den Kopf.
    »Die Marchs. Die haben es gegründet, weil sie es praktisch fanden. Als sie das Land bekamen und das Haus bauten, brauchten sie Leute, die für sie arbeiteten – Dienstmädchen, Gärtner, Stallburschen, Wildhüter … Sie wollten, dass die Bediensteten auf ihrem Grund und Boden lebten, unter ihrer Knute, um sie besser kontrollieren zu können, aber zu dicht wollten sie sie auch nicht auf der Pelle haben. Sie wollten keine stinkenden Bauern riechen müssen.« Sein Mund hatte einen hämischen, angewiderten Zug angenommen. »Also bauten sie ein Dorf für ihr Gesinde. So wie andere einen Swimmingpool bauen lassen oder ein Gewächshaus oder einen Stall für ihre Ponys. Bloß ein bisschen Luxus, um das Leben angenehmer zu gestalten.«
    »So sollte man nicht mit Menschen umgehen«, pflichtete Sam bei. »Aber das ist lange her.«
    »Lange her, ja. Damals hatten die Marchs noch Verwendung für Glenskehy. Und jetzt, wo es ihrem Vergnügen nichts mehr nützt, warten sie ab und sehen zu, wie es stirbt.« In Naylors Stimme schwoll etwas an, etwas Unberechenbares und Gefährliches, und zum ersten Mal konnte ich eine Verbindung herstellen zwischen diesem Mann, der mit Sam über die Geschichte seiner Heimat sprach, und der wilden Kreatur, die auf dem dunklen Feldweg versucht hatte, mir die Augen auszudrücken. »Das Dorf zerfällt. Noch ein paar Jahre, und es wird nicht mehr da sein. Die Einzigen, die noch bleiben, sind diejenigen, die nicht wegkönnen, so wie ich, während der Ort stirbt und irgendwann alle mit ihm. Wissen Sie, warum ich nicht auf die Uni gegangen bin?«
    Sam schüttelte den Kopf.
    »Ich bin nicht blöd. Von meinen Noten her hätte ich das locker gepackt. Aber ich musste in Glenskehy bleiben und mich um meine Eltern kümmern, und da gibt es keine Arbeit, für die man eine gute Ausbildung braucht. Da gibt es bloß Farmen. Wozu studieren, wenn ich doch bloß auf irgendeiner Farm Mist schaufeln würde? Ich hab gleich nach der Schule damit angefangen. Ich hatte keine andere Wahl. Und Dutzenden anderen ist es genauso ergangen wie mir.«
    »Das ist aber nicht die Schuld der Familie March«, gab Sam zu bedenken. »Was hätten die denn dagegen tun können?«
    Wieder dieses harte, bellende Lachen. »Sie hätten einiges tun können. Einiges. Vor vier oder fünf Jahren hat sich im Dorf jemand umgesehen, der stammte aus Galway, wie Sie. War Immobilieninvestor. Er wollte Whitethorn House kaufen und in ein Luxushotel umwandeln, einen Golfplatz anlegen und so weiter. Er hatte große Pläne, dieser Bursche. Können Sie sich vorstellen, was das für Glenskehy bedeutet hätte?«
    Sam nickte: »Jede Menge Arbeitsplätze.«
    »Nicht nur das. Touristen und neue Dienstleistungsunternehmen. Menschen, die hergezogen wären, um für die neuen Unternehmen zu arbeiten. Junge Leute, die geblieben wären, anstatt nach Dublin zu verschwinden, sobald sie können. Neue Häuser und Straßen. Endlich wieder eine eigene Schule, anstatt unsere Kinder nach Rathowen schicken zu müssen. Arbeit für Lehrer, einen Arzt, vielleicht auch Immobilienmakler – für gebildete Menschen. Nicht alles auf einmal, wahrscheinlich hätte es Jahre gedauert, aber wenn die Sache erst mal in Gang gekommen wäre … Mehr hätten wir gar nicht gebraucht: bloß diesen einen Anstoß. Diese eine Chance. Und Glenskehy hätte sich wieder erholt.«
    Vor vier oder fünf Jahren. Danach hatten die Angriffe auf Whitethorn House begonnen. Naylor entsprach einwandfrei meinem Profil, Stück für Stück. Whitethorn House als Hotel, bei der Vorstellung konnte ich den Anblick seines Gesichts schon besser ertragen, aber trotzdem: Irgendwie wurde man doch von der Leidenschaft in seiner Stimme mitgerissen, von dieser strahlenden Vision, die sein Herz höherschlagen ließ, das Dorf wieder geschäftig und hoffnungsfroh, lebendig.
    »Aber Simon March wollte nicht verkaufen?«, fragte Sam.
    Naylor schüttelte den Kopf, ein langsames, zorniges Wiegen, verzog das Gesicht, fasste sich an die geschwollene Kinnlade. »Ein einziger Mann, allein in einem Haus, in dem eine Großfamilie Platz hätte. Was hatte er

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