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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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dir selbst machen.« Damit fegte sie an mir vorbei ins Wohnzimmer.
    Ich dachte, wenn ich jetzt anfing zu überlegen, warum sie sauer auf mich war, könnte mein Kopf explodieren. Ich goss mir eine große Tasse Kaffee ein, schmierte Butter auf eine Scheibe Brot – ein Toast kam mir viel zu kompliziert vor – und nahm beides mit ins Wohnzimmer. Rafe lag noch immer bewusstlos auf dem Sofa, ein Kissen über den Kopf gezogen. Daniel saß auf der Fensterbank, starrte in den Garten hinaus, eine Tasse in einer Hand und in der anderen eine Zigarette, die vergessen vor sich hin glimmte. Er drehte sich nicht zu mir um.
    »Kriegt er Luft?«, fragte ich und deutete mit dem Kinn auf Rafe.
    »Interessiert keinen«, sagte Abby. Sie hing schlaff in einem Sessel, die Augen geschlossen und das Glas an die Stirn gedrückt. Die Luft roch modrig und überreif, Zigarettenstummel und Schweiß und verschütteter Alkohol. Irgendwer hatte die Glasscherben vom Klavier gefegt. Sie lagen in einer Ecke auf dem Boden, in einem kleinen, bedrohlichen Häufchen. Ich setzte mich vorsichtig und versuchte zu essen, ohne den Kopf zu bewegen.
    Der Nachmittag schlich dahin, langsam und klebrig wie Sirup. Abby legte halbherzig eine Patience, gab alle paar Minuten auf, um dann von vorn anzufangen. Ich döste immer wieder ein, zusammengerollt im Sessel. Irgendwann tauchte Justin auf, in seinen Morgenmantel gehüllt, und kniff vor Schmerz die Augen zusammen, als er das Licht sah, das durch die Fenster fiel – es war eigentlich ein ganz schöner Tag, wenn man in der Stimmung für so etwas war. »Oh Gott«, sagte er schwach und hob schützend die Hand vor die Augen. »Mein Kopf . Ich glaub, ich krieg die Grippe, mir tut alles weh.«
    »Nachtluft«, sagte Abby und legte eine weitere Karte. »Kalt, feucht, alles Mögliche. Und natürlich eimerweise Punsch.«
    »Das kommt nicht vom Punsch. Mir tun die Beine weh. Vom Kater tun einem nicht die Beine weh. Können wir nicht die Vorhänge zuziehen?«
    »Nein«, sagte Daniel, ohne sich umzudrehen. »Trink einen Kaffee.«
    »Vielleicht hab ich eine Hirnblutung. Kriegt man dann nicht Sehstörungen?«
    »Du hast einen Kater «, sagte Rafe aus den Tiefen des Sofas. »Und wenn du nicht mit dem Gejammer aufhörst, komm ich rüber und erwürg dich, und wenn’s mich selbst umbringt.«
    »Oh, super«, sagte Abby und massierte sich den Nasenrücken. »Es lebt.«
    Justin ignorierte ihn, verriet nur mit einem eisigen Anheben des Kinns, dass der Streit von letzter Nacht nicht zu Ende war, und sank auf einen Stuhl.
    »Vielleicht sollten wir ein bisschen rausgehen, irgendwann«, sagte Daniel, der endlich aus seiner Versunkenheit erwachte und sich umblickte. »Könnte uns wieder einen klaren Kopf verschaffen.«
    »Ich kann nirgendwohin«, sagte Justin und griff nach Abbys Bloody Mary. »Ich hab die Grippe. Wenn ich rausgehe, hol ich mir eine Lungenentzündung.«
    Abby schlug seine Hand weg. »Das ist meine. Mach dir selbst eine.«
    »Früher hätte man gesagt«, erklärte Daniel ihm, »dass deine Körpersäfte im Ungleichgewicht sind: Ein Überschuss an schwarzer Galle verursacht Melancholie. Schwarze Galle ist kalt und trocken, also brauchst du als Gegenmittel etwas Warmes und Feuchtes. Ich weiß nicht mehr, was für Speisen dem sanguinischen Charakter zugeordnet werden, aber es wäre wohl logisch, dass zum Beispiel rotes Fleisch –«
    »Sartre hatte recht«, sagte Rafe durch sein Kissen. »Die Hölle, das sind die anderen.«
    Ich empfand es genauso. Ich wollte nur noch, dass es Abend wurde und ich meinen Spaziergang machen konnte, raus aus diesem Haus und weg von diesen Menschen, um in Ruhe den Versuch zu machen, die vergangene Nacht zu verarbeiten. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben so viel Zeit in Gesellschaft von anderen verbracht. Bis zu diesem Moment war es mir überhaupt nicht aufgefallen, aber mit einem Mal kam mir alles, was sie machten – Justins Sterbender-Schwan-Nummer, das Schnappen von Abbys Karten –, wie ein Frontalangriff vor. Ich zog mir die Strickjacke über den Kopf, drückte mich in die Sesselecke und schlief ein.

    Als ich wach wurde, war der Raum leer. Es schien, als wäre er überstürzt verlassen worden, wegen irgendeines plötzlichen Notfalls – Lampen eingeschaltet, Lampenschirme merkwürdig schief, Stühle zurückgeschoben, halbleere Tassen und klebrige Ringe auf dem Tisch. »Hallo«, rief ich, doch meine Stimme versickerte in den Schatten, und niemand antwortete.
    Das Haus wirkte riesig und

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