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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Gott, und das sagst ausgerechnet du. Es warst ja wohl du, der –«
    Es war Justin, und seine Stimme bebte vor Wut. Ich sah Daniel an, riss die Augen weit auf, sprang hoch und lugte durch den Efeu. Rafe tigerte auf der Terrasse auf und ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Justin lehnte an einer Wand, kaute heftig auf einem Fingernagel. Sie stritten noch immer, aber ihre Stimmen waren etwas leiser geworden, und ich konnte bloß ihren hektischen, aggressiven Tonfall hören. Justin hielt den Kopf gesenkt, das Kinn fast auf der Brust, und es sah aus, als würde er weinen.
    »Scheiße«, sagte ich und warf Daniel einen kurzen Blick über die Schulter zu. Er saß noch immer auf der Bank. Sein Gesicht verschmolz mit dem Muster des Laubschattens, so dass ich seinen Ausdruck nicht sehen konnte. »Ich glaub, die haben drinnen irgendwas zerdeppert. Und Rafe sieht aus, als wollte er Justin eine reinhauen. Vielleicht sollten wir … ?«
    Er stand langsam auf. Seine schwarzweiße Gestalt schien die Nische auszufüllen, groß und scharf umrissen und fremd. »Ja«, sagte er. »Ist wahrscheinlich besser.«
    Er schob mich mit einer sanften, unpersönlichen Hand auf der Schulter beiseite und trat hinaus auf die Wiese. Abby lag auf dem Rücken im Gras, in einem Wirbel aus weißer Baumwolle. Sie sah aus, als schliefe sie tief und fest.
    Daniel ging neben ihr auf ein Knie und strich ihr behutsam eine Haarlocke aus dem Gesicht. Dann richtete er sich wieder auf, wischte sich ein paar Grashalme von der Hose und ging zur Terrasse. Rafe schrie: »Leck mich doch!«, fuhr herum und stürmte ins Haus, knallte die Tür hinter sich zu. Justin weinte jetzt ganz offensichtlich.
    Nichts davon ergab irgendeinen Sinn. Die ganze unbegreifliche Szene schien sich in langsamen, schiefen Kreisen abzuspielen, das Haus torkelte hilflos, und der Garten wogte wie Wasser. Ich merkte, dass ich doch nicht so nüchtern war, sondern im Gegenteil mächtig betrunken. Ich setzte mich auf die Bank und steckte den Kopf zwischen die Knie, bis die Dinge um mich herum zur Ruhe kamen.
    Ich muss dann eingeschlafen oder ohnmächtig geworden sein, ich weiß es nicht. Ich hörte Rufen, irgendwo, aber es schien nichts mit mir zu tun haben, und ich reagierte nicht darauf.
    Ein Krampf im Hals weckte mich. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich war: zusammengerollt auf der Steinbank, den Kopf in einem peinlichen Winkel nach hinten gegen die Mauer gelehnt. Meine Kleidung war feucht und kalt, und ich fröstelte.
    Ich streckte mich, ganz vorsichtig, und stand auf. Schlechte Idee: Plötzlich drehte sich mir alles, ich musste mich am Efeu festhalten, um nicht umzukippen. Der Garten vor der Nische war grau geworden, ein stilles, gespenstisches, vordämmriges Grau, und kein Blatt bewegte sich. Einen Moment lang hatte ich Angst, dort hinauszutreten. Er sah aus wie ein Ort, dessen Ruhe nicht gestört werden sollte.
    Abby war nicht mehr auf der Wiese. Das Gras war schwer von Tau, benetzte meine Füße und den Saum meiner Jeans. Ein Paar Socken, möglicherweise von mir, lag verknäuelt auf der Terrasse, aber ich hatte nicht die Energie, es aufzuheben. Die Terrassentür stand offen, und Rafe schlief auf dem Sofa, schnarchend, in einem Chaos aus vollen Aschenbechern und leeren Gläsern und verstreuten Kissen und dem Geruch von abgestandenem Punsch. Das Klavier war mit Glasscherben übersät, geschwungen und böse auf dem glänzenden Holz und den vergilbten Tasten, und auf der Wand darüber war eine tiefe frische Delle: Jemand hatte etwas geworfen, ein Glas oder einen Aschenbecher, und hatte es verflucht ernst gemeint. Ich schlich auf Zehenspitzen nach oben und kroch ins Bett, ohne mich vorher auszuziehen. Es dauerte lange, ehe ich aufhörte zu schlottern und einschlief.

19
    Wie zu erwarten, wachten wir spät auf, alle mit einem höllischen Kater und kollektiv mieser Stimmung. Mein Kopf tat mörderisch weh, sogar bis in die Haarspitzen, und mein Mund fühlte sich an wie nach einem Sündenfall, geschwollen und weich. Ich zog mir eine Strickjacke über die Sachen von gestern, überprüfte im Spiegel, ob mein Gesicht wund war von Daniels Bartstoppeln – nichts –, und schleppte mich nach unten.
    Abby war in der Küche und warf gerade Eiswürfel in ein Glas. »Sorry«, sagte ich. »Hab ich das Frühstück verpasst?«
    Sie knallte die Eisschale zurück ins Gefrierfach und schlug die Tür zu. »Keiner hat Hunger. Ich trink eine Bloody Mary. Daniel hat Kaffee gekocht. Alles andere kannst du

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