Totengleich
rübergekippt. Er hat mich nicht angeschrien oder so, er hat eher geflüstert, aber sein Gesicht … er sah gar nicht mehr aus wie Daniel, er sah nicht mal mehr menschlich aus. Er hat mich regelrecht angeknurrt .«
»Er war voller Blut«, sagte Abby unverblümt, »und er wollte nicht, dass du was abkriegst. Und er war traumatisiert. Wir beide hatten es in der Nacht leicht, Rafe. Doch« – als Rafe schnaubte –, »hatten wir. Wärst du gern im Cottage dabei gewesen?«
»Wäre vielleicht keine schlechte Idee gewesen.«
»Nie im Leben«, sagte Justin leicht aggressiv. »Glaub mir. Abby hat recht: Ihr hattet es leicht.« Rafe zuckte übertrieben mit den Schultern.
»Jedenfalls«, sagte Abby, nach einem angespannten Moment. »Daniel hat tief Luft geholt und sich mit der Hand über die Stirn gestrichen und gesagt: ›Abby, hol uns beiden bitte eine komplette Montur Klamotten zum Wechseln und ein Handtuch. Rafe, hol mir einen Plastikbeutel, einen großen. Justin, zieh dich aus.« Er war schon dabei, sich das Hemd aufzuknöpfen –«
»Als ich mit dem Beutel wiederkam, standen er und Justin in Unterhose auf der Terrasse«, sagte Rafe und wischte sich Asche vom Hemd. »Kein schöner Anblick.«
»Mir war eiskalt «, sagte Justin. Er klang deutlich besser, jetzt, wo der schlimmste Teil vorbei war: zittrig, ausgelaugt, erlöst. »Wir hatten peitschenden Regen und hundert Grad unter null, der Wind war wie Eis, und wir standen in der Unterwäsche auf der Terrasse. Ich hatte keine Ahnung, wieso, mein Kopf war wie betäubt, und ich hab einfach getan, was man mir sagte. Daniel hat unsere Klamotten in den Beutel gestopft und irgendwas gesagt wie, ein Glück, dass wir keine Mäntel anhatten. Ich wollte meine Schuhe reintun, wollte ihm helfen, aber er hat gesagt: ›Nein, lass die hier. Um die kümmere ich mich später.‹ Kurz darauf kam Abby mit den Handtüchern und den Klamotten, und wir haben uns abgetrocknet und angezogen.«
»Ich hab noch mal gefragt, was passiert ist«, sagte Rafe, »diesmal aus sicherer Entfernung. Justin hat mich nur angestarrt, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, und Daniel hat mich keines Blickes gewürdigt. Er hat bloß sein Hemd in die Hose gestopft und gesagt: ›Rafe, Abby, holt bitte eure schmutzige Wäsche. Wenn ihr keine schmutzigen Sachen habt, saubere tun’s auch.‹ Dann hat er den Beutel genommen und ist in die Küche marschiert, barfuß, und Justin ist wie ein junges Hündchen hinter ihm hergetappt. Ich weiß nicht, wieso, jedenfalls bin ich tatsächlich los und hab meine Schmutzwäsche geholt.«
»Er hatte recht«, sagte Abby. »Für den Fall, dass die Polizei hier aufgekreuzt wäre, ehe wir die Wäsche fertig gehabt hätten, musste es so aussehen wie eine ganz normale Ladung Wäsche, nicht wie ein Versuch, Spuren zu beseitigen.«
Rafe hob eine Schulter. »Wie auch immer. Daniel hat die Waschmaschine angemacht und ist stirnrunzelnd davor stehen geblieben, wie vor einem mysteriösen Objekt. Wir waren alle in der Küche, standen herum wie die Ölgötzen, warteten auf Gott weiß was, keine Ahnung, dass Daniel irgendwas sagt, schätze ich, obwohl –«
»Ich hab bloß noch das Messer gesehen«, sagte Justin leise. »Rafe und Abby hatten es einfach da liegen lassen, auf dem Küchenboden.«
Rafe schlug die Augen zur Decke und nickte Richtung Abby. »Ja«, sagte sie, »das war ich. Ich hab gedacht, wir rühren besser nichts an, nicht, solange die anderen weg waren und wir uns noch keinen Plan überlegt hatten.«
»Denn natürlich«, sagte Rafe ironisch zu mir, »würde es einen Plan geben. Bei Daniel gibt es schließlich immer einen Plan. Und Pläne sind doch auch was Schönes, oder?«
»Abby hat uns angebrüllt«, sagte Justin. »Sie hat geschrien: ›Wo zum Teufel ist Lexie?‹ Direkt in mein Ohr. Ich wär fast ohnmächtig geworden.«
»Daniel hat sich umgedreht und uns angestarrt«, sagte Rafe, »als hätte er keine Ahnung, wer wir sind. Justin wollte was sagen, aber es kam nur so ein würgendes Geräusch, und Daniel ist furchtbar zusammengezuckt und hat ihn angeblinzelt. Dann hat er gesagt: ›Lexie ist in dem verfallenen Cottage, das sie so mag. Sie ist tot. Ich dachte, Justin hätte es euch gesagt.‹ Und er hat angefangen, sich die Socken anzuziehen.«
»Justin hatte es uns gesagt«, sagte Abby leise, »aber ich glaub, wir haben gehofft, er hätte es falsch verstanden, irgendwie … «
Stille trat ein. Die Wanduhr oben im Flur tickte, langsam und schwer. Irgendwo hatte Daniel
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