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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Ernst, die Nachricht wäre dann durchweg gut? Ist dir nicht mal der Gedanke gekommen, was für gravierende Folgen das hätte haben müssen?‹« Er trank einen kräftigen Schluck von seinem Wodka. »Jetzt sag mal ehrlich, Abby. Klingt das für dich nach überschwänglicher Freude?«
    »Verdammt, Rafe«, sagte Abby. Sie setzte sich auf, und ihre Augen sprühten Funken: Sie wurde wütend. »Was faselst du denn da? Spinnst du jetzt total? Keiner wollte, dass Lexie stirbt.«
    »Du nicht, ich nicht, Justin nicht. Vielleicht auch Daniel nicht. Ich sage nur, dass ich nicht wissen kann, was er gespürt hat, als er nach Lexies Puls getastet hat. Ich war nicht dabei. Und ich kann nicht darauf schwören, dass ich weiß, was er getan hätte, wenn er gemerkt hätte, dass sie noch lebt. Kannst du das, Abby? Nach diesen letzten paar Wochen, kannst du schwören, Hand aufs Herz, dass du dir absolut sicher bist, was Daniel getan hätte?«
    Etwas Kaltes glitt mir über den Nacken, kräuselte die Vorhänge, kroch in die Ecken. Cooper und die Kriminaltechnik hatten uns lediglich sagen können, dass sie nach Eintritt des Todes noch transportiert worden war, nicht, wie lange danach. Mindestens zwanzig Minuten lang waren die beiden im Cottage allein gewesen, Lexie und Daniel. Ich dachte an ihre fest geballten Fäuste – extremer emotionaler Stress , hatte Cooper gesagt – und dann an Daniel, wie er still neben ihr saß, rauchte, vorsichtig die Asche in seine Zigarettenpackung schnippte, während Regentropfen auf sein Haar fielen. Wenn da noch etwas gewesen wäre – eine zuckende Hand, ein Stöhnen, große braune Augen, die zu ihm aufsahen, ein Flüstern, fast unhörbar schwach –, kein Mensch würde es je erfahren.
    Nachtwind, der über den Hang strich, Eulenrufe in der Ferne. Cooper hatte noch etwas gesagt: Ärzte hätten sie retten können.
    Daniel hätte Justin zwingen können, im Cottage zu bleiben, wenn er das wirklich gewollt hätte. Eigentlich wäre es logischer gewesen. Derjenige, der blieb, hatte nichts zu tun, falls Lexie tot war, außer sich still zu verhalten und nichts anzufassen. Derjenige, der zurück zum Haus ging, musste den anderen die schreckliche Nachricht mitteilen, das Portemonnaie und die Schlüssel und die Taschenlampe zusammensuchen, Ruhe bewahren und doch schnell handeln. Daniel hatte Justin geschickt, der sich kaum auf den Beinen halten konnte.
    »Bis ganz zum Schluss, bis zu dem Abend, bevor du nach Hause gekommen bist«, sagte Rafe zu mir, »war er felsenfest davon überzeugt, du wärst tot. Er meinte, die Bullen würden nur bluffen, nur behaupten, du wärst nicht tot, damit wir denken, du würdest mit ihnen reden. Er hat gesagt, wir müssten nur einen kühlen Kopf bewahren, dann würden sie früher oder später einen Rückzieher machen, uns irgendeine Story auftischen, du hättest einen Rückfall gehabt und wärst im Krankenhaus gestorben. Erst als Mackey angerufen und gefragt hat, ob wir am nächsten Tag da wären, er würde dich gern nach Hause bringen – da hat Daniel es geschnallt, ach nee, da ist ja vielleicht doch keine Riesenverschwörung im Gange, die Sache könnte ja doch so einfach sein, wie es den Anschein hatte. Die große Erleuchtung.«
    Er nahm wieder einen kräftigen Schluck. »Freude, dass ich nicht lache. Ich sag euch, was er empfunden hat: lähmende Angst. Sein einziger Gedanke war, ob Lexie wirklich das Gedächtnis verloren hatte oder ob sie das nur der Polizei erzählt hatte und wie sie reagieren würde, sobald sie zu Hause war.«
    »Na und?«, fragte Abby. »Was ist schon dabei? Wir waren alle nervös deshalb, wenn wir ehrlich sind. Ist doch auch klar. Wenn sie sich hätte erinnern können, hätte sie weiß Gott allen Grund gehabt, stinkwütend auf uns vier zu sein. An dem Abend, als du nach Hause kamst, Lex, saßen wir alle wie auf heißen Kohlen. Erst als klar war, dass du nicht wütend auf uns warst oder so etwas, haben wir uns entspannt – aber als du aus dem Polizeiwagen gestiegen bist … Mann. Ich dachte, mir platzt jeden Moment der Kopf.«
    Eine letzte Sekunde lang hatte ich sie wieder so vor Augen, wie ich sie an dem Abend gesehen hatte: eine goldene Erscheinung auf der Treppe vor dem Haus, glänzend und gesammelt, wie junge Krieger aus einer vergessenen Sage, zu strahlend, um real zu sein.
    »Nervös«, sagte Rafe, »ja. Aber Daniel war wesentlich mehr als nur nervös. Er war hysterisch nervös, und er hat mich damit angesteckt. Schließlich hab ich ihn zur Rede gestellt –

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