Totengleich
still«, sagte Daniel.
»Leg deine Waffe weg«, sagte ich, »dann leg ich meine weg. In Ordnung?«
In der Sekunde, als Daniel seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete, versuchte Rafe, seinen Arm zu packen. Daniel wich aus, flink und geschickt, und rammte ihm den Ellbogen in die Rippen, ohne den Revolver auch nur minimal von mir wegzuschwenken. Rafe krümmte sich und stieß laut zischend die Luft aus. »Wenn du das noch einmal machst«, sagte Daniel, »muss ich dir ins Bein schießen. Ich muss das hier erledigen, und ich habe keine Zeit für deine Störmanöver. Setz dich hin.«
Rafe ließ sich aufs Sofa fallen. »Du bist wahnsinnig«, sagte er, keuchend vor Schmerz. »Du musst doch wissen, dass du wahnsinnig bist.«
»Bitte«, sagte Abby. »Die sind gleich da. Daniel, Lexie, bitte .«
Die Sirenen kamen näher. Ein dumpfes metallenes Scheppern hallte herauf. Daniel hatte das Tor verschlossen, und jemand hatte es gerade mit dem Wagen aufgerammt.
»Lexie«, sagte Daniel sehr deutlich, für das Mikro. Seine Brille rutschte ihm die Nase herunter, aber er schien es nicht zu merken. »Ich habe dich niedergestochen. Wie du bestimmt schon von den anderen weißt, war es nicht vorsätzlich –«
»Daniel«, sagte Abby, hell und verzerrt und atemlos. »Tu das nicht.«
Ich glaube nicht, dass er sie hörte. »Wir haben uns gestritten«, sagte er zu mir, »und dann haben wir uns richtig geprügelt und … ehrlich gesagt, ich kann mich nicht genau erinnern, wie es passiert ist. Ich war beim Spülen, ich hatte ein Messer in der Hand, ich war furchtbar wütend auf dich, weil du deinen Anteil am Haus verkaufen wolltest. Ich bin sicher, dass du das verstehst. Ich wollte dich schlagen, und das hab ich dann auch – mit Folgen, die keiner von uns, nicht mal eine Sekunde lang, hätte vorhersehen können. Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Euch allen.«
Quietschende Bremsen, aufspritzender Kies, die Sirenen, die draußen stumpfsinnig weiterheulten.
»Leg den Revolver weg, Daniel«, sagte ich. Er musste es wissen, dass mir nur ein Kopfschuss möglich war, dass ich nicht danebenschießen konnte. »Es wird alles gut. Wir finden eine Lösung, das schwöre ich. Leg ihn einfach weg.«
Daniel blickte die anderen nacheinander an: Abby, sprungbereit und hilflos, Rafe, nach vorn gebeugt und mit zornigen Augen auf dem Sofa, Justin, so weit im Sessel herumgedreht, dass er mit riesigen, ängstlichen Augen zu ihm hochstarren konnte. »Schsch«, sagte er zu ihnen und legte einen Finger an die Lippen. Ich hatte noch nie so viel Liebe und Zärtlichkeit und unglaubliche Eindringlichkeit in einem Gesicht gesehen, niemals. »Kein Wort. Egal, was passiert.«
Sie starrten ihn an. »Es wird alles gut«, sagte er. »Wirklich, versprochen. Es kommt alles wieder in Ordnung.« Er lächelte.
Dann wandte er sich mir zu, und sein Kopf bewegte sich, ein winziges, vertrauliches Nicken, wie ich es schon zigmal gesehen hatte. Rob und ich, Blicke, die sich über eine Tür hinweg treffen, die nicht aufgehen will, über einem Tisch im Verhörraum, und dann das fast unsichtbare Nicken zwischen uns: Los .
Es dauerte so lange. Daniels freie Hand kam hoch wie in Zeitlupe, in einem langen, fließenden Bogen, um den Revolver zu stützen. Eine gewaltige Unterwasserstille füllte den Raum, sämtliche Sirenen waren verebbt, Justins Mund war weit gedehnt, aber ich konnte nicht hören, ob Laute herauskamen. Das einzige Geräusch auf der Welt war das tonlose Klicken, als Daniel den Hahn spannte. Abbys Hände streckten sich nach ihm aus, die Finger gespreizt, ihr Haar schwang hoch. Ich hatte so viel Zeit, Zeit genug, um zu sehen, wie Justin den Kopf auf die Knie senkte, und um meinen Revolver nach unten zu schwenken für den Brustschuss, der sich auftat, Zeit, um zu sehen, wie Daniels Hände sich fest um den Webley schlossen, und mich daran zu erinnern, wie sie sich angefühlt hatten auf meinen Schultern, diese Hände, groß und warm und tüchtig. Ich hatte Zeit, um dieses Gefühl von vor so langer Zeit wiederzuerkennen, um mich an den beißenden Panikgeruch zu erinnern, den Dealer-Boy verströmt hatte, an das Blut, das mir unaufhörlich zwischen den Fingern hervorgequollen war, an die Erkenntnis, wie einfach es war zu verbluten, wie simpel, wie mühelos. Dann explodierte die Welt.
Irgendwo hab ich gelesen, dass das letzte Wort auf der Black Box eines jeden abgestürzten Flugzeugs, das Letzte, was der Pilot sagt, wenn er weiß, dass er sterben wird, »Mama«
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