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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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willst, Lexie. Schließlich beschäftigst du dich sonst auch nicht gerade zwanghaft mit der Vergangenheit.«
    »Ich will wissen, wer mich niedergestochen hat. Ich muss es wissen.«
    Seine kühlen neugierigen grauen Augen musterten mich mit gleichgültigem Interesse. »Warum?«, wiederholte er. »Es ist doch schließlich vorbei. Wir sind alle noch hier. Es ist kein dauerhafter Schaden entstanden. Oder?«
    Dein Arsenal , hatte Frank gesagt. Die tödliche Granate, die Lexie mir als letztes Mittel gelassen hatte, weitergereicht aus ihrer Hand über Coopers in meine, der schillernde Blitz im Dunkeln, hell und dann wieder verschwunden; das winzige Zucken, dass das alles hier ausgelöst hatte. Meine Kehle schnürte sich zu, bis mir sogar das Atmen weh tat, und ich schrie mitten hindurch: »Ich war schwanger!«
    Sie starrten mich alle an. Es war schlagartig so still, und ihre Gesichter waren so ungeheuer reglos und leer, dass ich dachte, sie hätten mich nicht verstanden. »Ich hab ein Baby erwartet«, sagte ich. Mir wurde schwindelig, vielleicht schwankte ich auf den Beinen, ich weiß es nicht. Ich konnte mich nicht erinnern, aufgestanden zu sein. Die Sonne, die durchs Zimmer strömte, verwandelte die Luft in ein seltsames, heiliges, unwahrscheinliches Gold. »Es ist gestorben.«
    Stille, noch immer.
    »Das ist nicht wahr«, sagte Daniel, aber er blickte die anderen nicht an, um zu sehen, wie sie es aufgenommen hatten. Seine Augen waren starr auf mich gerichtet.
    »Doch«, sagte ich. »Daniel, es ist wahr.«
    »Nein«, sagte Justin. Er atmete, als wäre er gerannt. »Ach Lexie, nein. Bitte.«
    »Es ist wahr«, sagte Abby. Sie klang schrecklich müde. »Ich hab’s gewusst, bevor das alles überhaupt passiert ist.«
    Daniels Kopf neigte sich nach hinten, nur ganz leicht. Seine Lippen öffneten sich, und er ließ langsam die Atemluft entströmen, leise und ungeheuer traurig.
    Rafe sagte leise, beinahe sanft: »Du verdammter Scheißkerl.« Er stand wie in Zeitlupe auf, die halbgeöffneten Hände vor sich, als wären sie erstarrt.
    Einen Moment lang musste ich all meine Verstandeskraft aufbieten, um zu begreifen, was das bedeutete – ich hatte auf Daniel getippt, egal, was er Abby gegenüber behauptete. Erst als Rafe erneut »Du Scheißkerl« sagte, diesmal lauter, wurde mir klar, dass er gar nicht mit Daniel sprach. Daniel, noch immer im Türrahmen, stand hinter Justins Sessel. Rafe sprach mit Justin.
    »Rafe«, sagte Daniel sehr schneidend. »Halt den Mund. Sofort. Setz dich und reiß dich zusammen.«
    Es war das Schlimmste, was er hatte sagen können. Rafe ballte die Fäuste, er war kalkweiß und bleckte die Zähne, und seine Augen waren golden und blindwütig wie bei einem Luchs. »Wage es nicht«, knurrte er. »Wage es nicht, mir noch einmal zu sagen, was ich tun soll. Guck uns doch an. Guck dir an, was du getan hast. Bist du zufrieden mit dir? Bist du jetzt glücklich? Wenn du nicht gewesen wärst –«
    »Rafe«, sagte Abby. »Hör mir zu. Ich weiß, du bist aufgebracht –«
    »Mein – oh Gott. Das war mein Kind . Tot. Seinetwegen.«
    »Ich hab gesagt, sei still«, sagte Daniel, und in seiner Stimme schwang jetzt etwas Gefährliches mit.
    Abbys Augen huschten zu mir, angespannt und flehend. Ich war die Einzige, auf die Rafe hören würde. Wenn ich in dem Moment zu ihm gegangen wäre, um ihn in die Arme zu nehmen, um das Ganze zu seiner und Lexies ureigener Trauer zu machen und nicht zu einem öffentlichen Krieg, hätte ich die Situation entschärfen können. Er hätte keine andere Wahl gehabt. Eine Sekunde lang konnte ich es förmlich spüren, stark wie die Wirklichkeit: wie seine Schultern an mir erschlafften, wie seine Hände mich fest umschlangen, sein warmes und sauber riechendes Hemd an meinem Gesicht.
    Ich rührte mich nicht. »Du«, sagte Rafe, aber ich konnte nicht entscheiden, ob zu Daniel oder zu Justin. »Du.«
    In meiner Erinnerung geschah alles so klar, saubere, deutliche Schritte, wie eine perfekte Choreographie. Vielleicht liegt es bloß daran, dass ich den Ablauf so häufig schildern musste, Frank, Sam, O’Kelly, den Kollegen vom Dezernat für interne Ermittlungen, vielleicht war auch alles ganz anders. Jedenfalls geschah meiner Erinnerung nach Folgendes.
    Rafe stürzte sich auf Justin oder Daniel oder beide, wie ein wilder Stier. Sein Bein stieß gegen den Tisch, der prompt umkippte, Flüssigkeiten flogen glänzend in hohen Bögen durch die Luft, Flaschen und Gläser rollten überall herum. Rafe fing

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