Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
ist. Wenn dir mit Lichtgeschwindigkeit die ganze Welt und das ganze Leben entrissen wird, ist dieses Wort das Einzige, was dir bleibt. Ich fand den Gedanken beängstigend, dass ich, falls mir eines Tages ein Verdächtiger ein Messer an die Gurgel halten würde, falls mein Leben auf einen Sekundenbruchteil zusammenschrumpfen würde, nichts mehr in mir hätte, was ich sagen, niemanden, dessen Namen ich rufen könnte. Aber was ich sagte, schwach in der haarfeinen Stille zwischen Daniels Schuss und meinem, war »Sam«.
    Daniel sagte kein Wort. Von der Wucht taumelte er rückwärts, und die Waffe fiel ihm aus der Hand, landete mit einem hässlichen dumpfen Geräusch auf dem Boden. Irgendwo fiel geborstenes Glas, ein liebliches, gleichgültiges Klimpern. Ich meinte, in seinem weißen Hemd ein Loch zu sehen, wie von einer Zigarette eingebrannt, aber ich sah in sein Gesicht. Es lag kein Schmerz darin, keine Furcht, nichts dergleichen. Er blickte nicht einmal erschrocken. Seine Augen waren auf irgendetwas hinter meiner Schulter gerichtet – ich werde nie wissen, auf was. Er sah aus wie ein Hindernisläufer oder ein Turner, der nach einem letzten todesverachtenden Sprung perfekt landet: entschlossen, abgeklärt, jedes Limit überschreitend, nichts zurückhaltend, sicher.
    »Nein«, sagte Abby, ausdruckslos und endgültig wie ein Befehl. Ihr Rock flatterte, heiter im Sonnenlicht, als sie auf ihn zusprang. Dann blinzelte Daniel und kippte langsam zur Seite, und hinter Justin war nur noch eine saubere weiße Wand.

25
    Die ersten Minuten danach sind alptraumhafte Fetzen, verbunden mit großen leeren Stellen. Ich weiß, dass ich lief, auf Scherben ausrutschte und weiterlief, um zu Daniel zu kommen. Ich weiß, dass Abby, über ihn gebeugt, wie eine Katze kämpfte, um mich abzuhalten, mit wilden Augen, kratzend. Ich erinnere mich an ihr blutverschmiertes T-Shirt, an den Donnerschlag, der durchs Haus hallte, als die Haustür aufgebrochen wurde, an rufende Männerstimmen, Fußgetrampel. Hände, die mich unter den Armen packten und zurückzogen. Ich wand mich und trat, bis sie mich fest durchrüttelten, und dann wurden meine Augen klar, und ich erkannte Franks Gesicht dicht vor meinem: Cassie, ich bin’s, ganz ruhig, es ist vorbei . Sam, der ihn wegstieß, seine Hände, die mich grob vor Panik abtasteten, auf der Suche nach Einschusslöchern, Finger, an denen Blut klebte, Ist das deins, ist das deins? Ich wusste es nicht. Sam, der mich umdrehte, mich packte, seine Stimme schließlich matt vor Erleichterung: Alles in Ordnung, du bist okay, er hat nicht getroffen … Irgendwer sagte etwas über das Fenster. Irgendwer schluchzte. Zu viel Licht, Farben so grell, dass man sich daran schneiden konnte, zu viele Stimmen, Rettungswagen, ruft einen –
    Schließlich bugsierte mich jemand zur Haustür hinaus und in einen Streifenwagen, knallte die Tür zu. Ich saß lange da, schaute auf die Kirschbäume, auf den stillen Himmel, der langsam dämmrig wurde, auf die fernen dunklen Wellen der Hügel. Ich dachte an gar nichts.

    Es gibt routinemäßige Abläufe, wenn Polizeibeamte in einen Schusswechsel verwickelt wurden. Es gibt für alles routinemäßige Abläufe bei der Polizei, und sie bleiben sorgsam unerwähnt, bis zu dem Tag, an dem sie schließlich gebraucht werden und der Archivar den rostigen Schlüssel umdreht und Staub von der Akte bläst. Ich hatte noch keinen Kollegen getroffen, der einen Menschen angeschossen hatte. Es war niemand da, der mir hätte sagen können, womit ich zu rechnen hatte oder wie ich damit umgehen sollte oder dass alles gut werden würde.
    Byrne und Doherty wurden dazu verdonnert, mich ins Hauptquartier zu bringen, im Phoenix Park, wo das DIA, das Dezernat für interne Angelegenheiten, in Vorzeigebüros arbeitet, eingehüllt in einer dicken, bauschigen Wolke Rechtfertigungszwang. Byrne fuhr, seine hängenden Schultern sagten so klar wie eine Sprechblase über seinem Kopf: Ich hab gewusst, dass so was passieren würde . Ich saß auf der Rückbank wie eine Verdächtige, und Doherty beobachtete mich möglichst verstohlen im Rückspiegel. Er sabberte förmlich: So etwas Aufregendes hatte er vermutlich in seiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt, außerdem ist Klatsch und Tratsch in unserem Metier eine gute Währung, und er hatte soeben einen Hauptgewinn gezogen. Meine Beine waren so kalt, dass ich sie kaum bewegen konnte. Ich war völlig durchgefroren, als wäre ich in einen eiskalten See gefallen. An jeder roten Ampel

Weitere Kostenlose Bücher