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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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mir die Arme hochschoss, die ernsten grauen Augen, die Pupillen nur ein kleines bisschen geweitet. Dann war da nur noch Abbys Stimme, ausdruckslos und unerbittlich Nein , die leere Wand, wo Daniel gestanden hatte, und Stille, immense Stille, die mir in den Ohren dröhnte.
    Die Kriminaltechnikerin übergab mich wieder den Jungs vom DIA, und sie meinten, wenn ich noch zu aufgewühlt sei, könne ich meine Aussage auch erst am nächsten Tag machen, aber ich sagte, nein, danke, es geht schon. Sie erklärten mir, dass ich das Recht hätte, einen Anwalt oder einen Gewerkschaftsvertreter hinzuzuziehen, und ich sagte, nein, danke, es geht schon. Der Verhörraum war kleiner als die bei uns, kaum Platz, um den Stuhl vom Tisch nach hinten zu rücken, und sauberer: keine Schmierereien, keine Zigarettenbrandflecken im Teppichboden, keine Dellen in den Wänden, wo jemand mit einem Stuhl Amok gelaufen war. Beide DIA-Jungs sahen aus wie Buchhalterkarikaturen: graue Anzüge, Halbglatzen, keine Lippen, die gleichen randlosen Brillen. Einer von ihnen lehnte an der Wand hinter meiner Schulter – selbst wenn du sämtliche Taktiken in- und auswendig kennst, wirken sie dennoch auf dich –, und der andere saß mir gegenüber. Er richtete sein Notizbuch penibel an der Tischkante aus, schaltete den Kassettenrekorder ein und gab den üblichen einleitenden Sermon von sich. »So«, sagte er schließlich, »jetzt erzählen Sie mal, Detective, in Ihren eigenen Worten.«
    »Daniel March«, sagte ich. Das waren die einzigen Worte, die mir über die Lippen kamen. »Kommt er durch?«, und ich wusste es, noch ehe er antworten konnte, ich wusste es, als seine Augenlider flatterten und seine Augen von mir wegglitten.

    Die Kriminaltechnikerin – sie hieß Gillian – fuhr mich irgendwann am späten Abend nach Hause, nachdem die DIA-Zwillinge endlich mit mir fertig waren. Ich erzählte ihnen, was zu erwarten war: die Wahrheit, so gut ich sie in Worte fassen konnte, nichts als die Wahrheit und nicht die ganze Wahrheit. Nein, ich hatte nicht das Gefühl, eine andere Wahl gehabt zu haben, als meine Waffe abzufeuern. Nein, ich hatte keine Möglichkeit, einen nicht tödlichen, kampfunfähig machenden Schuss zu versuchen. Ja, ich war überzeugt, dass mein Leben in Gefahr war. Nein, es hatte zuvor nichts darauf hingedeutet, dass Daniel gefährlich war. Nein, er war nicht unser Hauptverdächtiger gewesen, eine lange Aufzählung von Gründen, warum nicht – sie fielen mir erst nach kurzer Überlegung wieder ein, kamen mir vor wie aus einer längst vergangenen Zeit, als gehörten sie zu einem anderen Leben. Nein, ich glaubte nicht, dass es von mir oder Frank oder Sam fahrlässig gewesen war, eine Schusswaffe in dem Haus zu belassen, es war übliche Undercoverpraxis, illegale Gegenstände für die Dauer der Ermittlung vor Ort zu lassen, das Entfernen der Waffe hätte die ganze Operation zum Scheitern bringen können. Ja, im Rückblick machte es den Eindruck, als sei diese Entscheidung unklug gewesen. Sie sagten, wir würden uns in Kürze noch einmal unterhalten – aus ihrem Mund klang das wie eine Drohung –, und vereinbarten für mich einen Termin beim Psychologen, der sich garantiert dumm und dämlich freuen würde.
    Gillian brauchte meine Kleidung – Lexies Kleidung –, um sie auf Schmauchspuren zu untersuchen. Sie blieb in der Tür zu meiner Wohnung stehen, die Hände gefaltet, und sah zu, wie ich mich umzog: Sie musste sich vergewissern, dass sie auch bekam, was sie sah, dass ich nicht etwa das T-Shirt gegen ein frisches austauschte. Meine eigenen Sachen fühlten sich kalt und zu steif an, als würden sie mir nicht gehören. Auch die Wohnung war kalt, sie hatte einen leicht modrigen Geruch, und auf allem lag ein dünner Staubfilm. Sam war schon eine Weile nicht mehr hier gewesen.
    Ich übergab Gillian meine Sachen, und sie verstaute sie zügig in große Beweismittelbeutel. Als sie sich mit vollen Händen zum Gehen wandte, zögerte sie. Zum ersten Mal wirkte sie unsicher, und mir wurde klar, dass sie vermutlich jünger war als ich. »Kommen Sie allein zurecht?«, fragte sie.
    »Es geht schon«, sagte ich. Ich hatte den Satz an dem Tag so oft gesagt, dass ich überlegte, ein T-Shirt damit bedrucken zu lassen.
    »Haben Sie jemanden, der herkommen und bei Ihnen bleiben kann?«
    »Ich ruf meinen Freund an«, sagte ich, »er wird herkommen«, obwohl ich mir dessen nicht sicher war, ganz und gar nicht.

    Als Gillian mit den letzten Überresten von Lexie Madison

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