Totengleich
gegangen war, setzte ich mich mit einem Glas Brandy auf die Fensterbank – ich kann Brandy nicht ausstehen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich von Amts wegen unter Schock stand, auf etwa vier unterschiedliche Arten, und außerdem hatte ich sonst nichts Hochprozentiges da – und sah zu, wie der Leuchtturm blinkte, gelassen und regelmäßig wie ein Herzschlag, draußen über der Bucht. Es war spät in der Nacht, aber ich konnte nicht mal an Schlaf denken. Im schwachen gelben Licht meiner Nachttischlampe sah der Futon leicht bedrohlich aus, dick gepolstert mit breiiger Hitze und Alpträumen. Ich wollte Sam anrufen, wollte es so verzweifelt, als würde ich verdursten, aber ich hätte es nicht verkraftet, falls er nicht dranging, nicht in dieser Nacht.
Irgendwo weit weg schrillte kurz eine Hausalarmanlage, bis jemand sie ausstellte, und sogleich schwoll die Stille böse zischend wieder an. Im Süden waren die Lichter vom Dun-Laoghaire-Fährhafen so ordentlich aufgereiht wie eine Weihnachtslichterkette, dahinter meinte ich ganz kurz – eine optische Täuschung – die Silhouette der Wicklow-Berge vor dem dunklen Himmel zu sehen. Um diese Zeit waren nur ein paar vereinzelte Autos auf der Strandstraße unterwegs. Die glatten Bögen ihrer Scheinwerferkegel wuchsen an und schwanden dahin, und ich fragte mich, wohin die Leute fuhren, spät und allein, woran sie in den warmen Blasen ihrer Autos dachten, welche zarten, teuer erkauften, unersetzlichen Schichten Leben sie umhüllten.
Ich denke nicht oft an meine Eltern. Ich habe nur eine Handvoll Erinnerungen, und ich will nicht, dass sie abnutzen, glattscheuern, unter zu viel Licht verblassen. Wenn ich sie ganz selten mal hervorhole, sollen sie so leuchtend klar sein, dass es mir den Atem verschlägt, und so scharf, dass sie weh tun. Doch in jener Nacht breitete ich sie alle auf der Fensterbank aus wie hauchdünne Bilder, ausgeschnitten aus Seidenpapier, und ging sie durch, eine nach der anderen. Meine Mutter ein Nachtlichtschatten neben meinem Bett, bloß eine schlanke Taille und zum Pferdeschwanz gebundene Locken, eine Hand auf meiner Stirn und ein Geruch, den ich nirgendwo sonst gefunden habe, und eine leise, liebliche Stimme, die mich in den Schlaf singt: À la claire fontaine, m’en allant promener, j’ai trouvé l’eau si belle que je m’y suis baignée … Sie war damals jünger, als ich jetzt bin, sie wurde keine dreißig. Mein Vater, wie er mit mir zusammen auf einem grünen Hügel sitzt und mir beibringt, meine Schuhe zuzubinden, seine abgetragenen braunen Schuhe, seine starken Hände mit einem Kratzer an einem Knöchel, Kirschgeschmack an meinem Mund, von einem Eis am Stiel, und wir beide lachen über das Kuddelmuddel, das ich angerichtet habe. Wir drei, wie wir auf dem Sofa liegen, unter einer Wolldecke, und Sesamstraße im Fernsehen gucken, die Arme meines Vaters um uns, so dass wir drei ein einziges großes, warmes Knäuel sind, der Kopf meiner Mutter unter seinem Kinn und mein Ohr auf seiner Brust, ich höre das Brummen, wenn er lacht, spüre es in den Knochen. Meine Mutter, wie sie sich schminkt, ehe sie zu einem Auftritt fährt. Ich liege ausgestreckt auf dem Ehebett, schaue ihr zu, zwirbele mir einen Zipfel der Daunendecke um den Daumen und frage: Wie hast du Daddy gefunden? Und ihr Lächeln im Spiegel, ein kleines, verschwiegenes Lächeln in ihre eigenen rauchigen Augen hinein: Die Geschichte erzähl ich dir, wenn du groß bist. Wenn du selbst ein kleines Mädchen hast. Eines Tages .
Der Himmel begann gerade grau zu werden, weit draußen über dem Horizont, und ich wünschte mir, ich hätte eine Pistole, um zum Schießstand zu fahren, und fragte mich, ob ein richtig kräftiger Schluck Brandy mir helfen würde, auf der Fensterbank einzudämmern, als es an meiner Wohnungstür klingelte, nur ein ganz kurzer Summton, so schnell, dass ich schon dachte, ich hätte es mir eingebildet.
Es war Sam. Er nahm die Hände nicht aus den Manteltaschen, und ich berührte ihn nicht. »Ich wollte dich nicht wecken«, sagte er, »aber ich dachte, vielleicht bist du ja ohnehin wach … «
»Ich kann nicht schlafen«, sagte ich. »Wie ist es gelaufen?«
»Wie zu erwarten. Sie sind völlig aufgelöst, sie hassen uns wie die Pest, und sie machen den Mund nicht auf.«
»Ja«, sagte ich. »Hab ich mir gedacht.«
»Wie fühlst du dich?«
»Es geht schon«, sagte ich automatisch.
Er sah sich im Raum um – zu aufgeräumt, keine Teller in der Spüle, Futon noch
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