Totengrund
gesunken. Jane fröstelte und schlang die Arme um die Brust, und sie malte sich aus, wie es wäre, die Nacht ohne Schutz auf diesem Berg zu verbringen, wo wilde Tiere im Wald hausten, wo der Wind in jeden Winkel drang. Eine Nacht in Begleitung eines Mannes, über den sie nichts wussten.
Was als Nächstes passiert, könnte allein von ihm abhängen.
»Seine Fingerabdrücke sind uns nicht unbekannt«, sagte Sheriff Fahey an die Polizeibeamten und Freiwilligen gewandt, die sich im Gemeindesaal von Pinedale versammelt hatten. »Sie sind in der Straftäterkartei des Staates Wyoming registriert. Der Name des Täters ist Julian Henry Perkins, und er hat bereits eine ganze Latte von Vorstrafen.« Fahey las von seinen Notizen ab. »Autodiebstahl. Einbruchdiebstahl. Landstreicherei. Mehrere Anklagen wegen kleinerer Eigentumsdelikte.« Er blickte in die Gesichter seiner Zuhörer. »Jetzt wissen wir, mit wem wir es zu tun haben. Und wir wissen auch, dass er inzwischen bewaffnet und gefährlich ist.«
Jane schüttelte den Kopf. »Mag sein, dass ich zu erschöpft bin, um noch klar denken zu können«, rief sie von ihrem Platz in der dritten Reihe, »aber ich finde, für einen Polizistenmörder ist das kein besonders auffälliges Vorstrafenregister.«
»Für einen Sechzehnjährigen schon.«
»Der Täter ist minderjährig?«
Detective Pasternak schaltete sich ein. »Seine Fingerabdrücke fanden sich in großer Zahl auf den Küchenschränken, ebenso wie an der Tür von Deputy Martineaus Wagen. Wir müssen davon ausgehen, dass er die Person war, die Mr. Loftus am Tatort beobachtet hat.«
»Der Perkins-Junge ist bei unserer Behörde bestens bekannt«, sagte Fahey. »Wir haben ihn schon mehrfach wegen diverser Vergehen festgenommen. Was uns noch nicht klar ist, ist die Art seiner Verbindung zu dieser Frau.«
»Seine Verbindung?«, rief Jane. »Maura ist seine Geisel!«
Montgomery Loftus, der in der ersten Reihe saß, schnaubte nur. »Hab ich aber anders gesehen.«
»Sie glauben , es anders gesehen zu haben«, konterte Jane.
Der Mann drehte sich um und fixierte die drei Besucher aus Boston mit einem kalten Blick. »Sie waren alle nicht dabei.«
»Ma’am«, sagte Fahey, »wir alle kennen Monty schon unser ganzes Leben lang. Er denkt sich so etwas nicht einfach aus.«
Dann braucht er vielleicht eine Brille , hätte Jane am liebsten gesagt, doch sie verkniff sich den sarkastischen Kommentar. Die drei Besucher aus Boston waren hier in diesem Gemeindesaal in der Minderheit – zu Dutzenden waren die Einheimischen zu der Versammlung geströmt. Der Mord an einem Deputy hatte die Gemeinde geschockt, und zahlreiche Freiwillige hatten sich eingefunden, alle wild entschlossen, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen. Freiwillige mit Gewehren und grimmigen Mienen, erfüllt von heiligem Zorn. Jane sah in ihre Gesichter, und ein ungutes Gefühl beschlich sie. Diese Leute wollen Blut fließen sehen, dachte sie. Und es spielt keine Rolle, dass ihr Opfer ein sechzehnjähriger Junge ist.
In der letzten Reihe erhob plötzlich eine Frau ihre Stimme. »Julian Perkins ist fast noch ein Kind! Ihr habt doch wohl nicht ernsthaft vor, ihm einen bewaffneten Trupp auf den Hals zu hetzen?«
»Er hat einen Deputy erschossen«, entgegnete Fahey. »Er ist kein Kind mehr.«
»Ich kenne Julian besser als ihr alle. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er einen Menschen umbringen würde.«
»Verzeihen Sie«, meldete sich Detective Pasternak zu Wort, »ich bin fremd in diesem Bezirk. Wenn Sie so freundlich wären, sich vorzustellen, Ma ’ am?«
Die junge Frau stand auf, und Jane erkannte sie sofort wieder. Es war die Sozialarbeiterin, die sie am Tatort des Doppelmords auf der Circle-B-Ranch getroffen hatten. »Ich bin Cathy Weiss vom Jugendamt von Sublette County. Ich bin seit einem Jahr als Julians Betreuerin eingesetzt.«
»Und Sie glauben nicht, dass er Deputy Martineau getötet haben könnte?«, fragte Pasternak.
»Nein, Sir.«
»Cathy, sehen Sie sich doch sein Vorstrafenregister an«, sagte Fahey. »Der Junge ist kein Engel.«
»Aber er ist auch kein Monster. Julian ist ein Opfer. Er ist ein Sechzehnjähriger, der einfach nur zu überleben versucht, in einer Welt, in der niemand ihn haben will.«
»Die meisten Jugendlichen schaffen es ganz gut, zu überleben, ohne dafür in Häuser einbrechen oder Autos stehlen zu müssen.«
»Die meisten Jugendlichen werden auch nicht von Sekten missbraucht.«
Fahey verdrehte die Augen. »Jetzt
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