Totenhauch
den Friedhof an seiner Kleidung riechen konnte. Nicht den fauligen Gestank des Todes, sondern die erdige Sinnlichkeit eines üppigen, geheimnisvollen Gartens.
Das war unfair. Der Friedhof sollte eigentlich mein Reich sein. Wie kam es dann, dass ich diejenige war, die keine Luft bekam? Dass ich diejenige war, bei der die Haut an der Stelle prickelte, wo seine Finger sich um meinen Arm legten?
Als spürte er mein Unbehagen, ließ er meinen Arm los. »Sie haben mich vorhin gefragt, ob im Afton-Delacourt-Mord irgendjemand verhaftet wurde. Es ist nie jemand formell angeklagt worden, aber Rupert Shaw wurde auf dem Präsidium verhört.«
»Mit welcher Begründung?«
»Er war mal Professor an der Emerson University. Er lehrte antike Bestattungspraktiken, primitive Begräbnisrituale, lauter solches Zeug. Nach dem Mord an Afton haben sich ein paar von seinen Studenten gemeldet und zugegeben, dass sie bei Séancen gewesen waren, die er bei sich zu Hause und in einemMausoleum hier auf dem Friedhof veranstaltet hatte. Sie haben gesagt, er hätte eine eigene Theorie über den Tod und dass er davon besessen gewesen wäre, es zu beweisen.«
»Und was für eine Theorie?«
»Nach seiner Auffassung öffnet sich, wenn jemand stirbt, eine Tür oder ein Tor, die es dem Betrachter erlaubt, einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Je langsamer das Sterben vonstatten geht, desto länger bleibt die Tür geöffnet, sodass man vielleicht sogar hindurchschlüpfen und hinterher wieder zurückkommen kann.«
Auf einmal hallte Papas Stimme in meinem Kopf wider. Wenn man diese Tür erst einmal geöffnet hat … kann man sie nie wieder schließen.
Erschrocken blickte ich zu ihm auf. »Was hat diese Theorie denn mit Afton Delacourt zu tun?«
Seine Miene blieb unbewegt. »Sie ist auf eine Art und Weise gefoltert worden, dass ihr Sterben sehr lange gedauert hat.«
»Das ist entsetzlich, aber es beweist doch wohl kaum …«
»Ihre Leiche wurde in dem Mausoleum gefunden, in dem Shaw angeblich seine Séancen abgehalten hat.«
Darauf konnte ich nichts entgegnen. Mein Mund war auf einmal ganz trocken geworden.
»Ich sage nicht, dass er irgendetwas damit zu tun hat«, fügte Devlin hinzu. »Seien Sie einfach nur vorsichtig. Lassen Sie sich nicht zu sehr mit ihm ein oder mit seinem fragwürdigen Institut.«
Es waren noch keine achtundvierzig Stunden vergangen, seit ich John Devlin zum ersten Mal gesehen hatte, und doch schien sich keiner von uns beiden Gedanken darüber zu machen, wie aufdringlich er sich in meine Privatangelegenheiten mischte.
»Wie kommt es, dass Sie so viel darüber wissen?«, fragte ich und fühlte mich dabei ziemlich unwohl in meiner Haut. »Sie haben gesagt, dass seinerzeit nicht viel über die Ermittlungennach außen gedrungen ist, und Sie sind noch zu jung, als dass Sie damals schon bei der Polizei gewesen sein konnten.«
»Meine Frau war eine von Rupert Shaws Studentinnen«, erwiderte er mit ruhiger Stimme. Dann drehte er sich um und ging.
ELF
Millionen Fragen schwirrten mir durch den Kopf – über Devlins Ehefrau, über seine Geister. Ich behielt sie für mich und sah zu, wie er wieder zu Regina Sparks hinüberging. Vielleicht war ich noch nicht bereit für die Antworten. Vielleicht war ich insgeheim immer noch der Ansicht, dass ich mich von ihm würde fernhalten können, sofern er ein Fremder für mich blieb.
Natürlich hätte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein können, denn unsere Schicksale waren bereits unauflöslich miteinander verwoben. Wir wussten es nur noch nicht.
Auch wenn es mir noch so schwerfiel, so wandte ich meine Gedanken auf dem Rückweg zu meinem Wagen doch etwas anderem zu. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, was ich über Afton Delacourt erfahren hatte, doch ich befürchtete allmählich das Schlimmste. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass drei Tote auf demselben Friedhof nicht irgendwie zusammenhingen, egal, wie viel Zeit zwischen dem Auffinden der Leichen lag. Falls sich allerdings herausstellte, dass die Skelettreste zu dem Leichnam gehörten, der ursprünglich in dem Grab beigesetzt worden war, war ich eher bereit zu glauben, dass die zwei Leichen – Aftons und die des unlängst aufgefundenen Mordopfers – Zufall waren. Wie Devlin betont hatte, waren fünfzehn Jahre zwischen zwei Leichenfunden eine große Zeitspanne, und ein verlassener Friedhof war kein ungewöhnlicher Ablageplatz.
Das Einzige, was ich aus Devlins Enthüllungen ganz
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