Totenhauch
Carolina. 1986 änderte man die Richtlinien, die bis dahin nur Männern den Beitritt ermöglicht hatten, und ab da wurden jedes Jahr zwei Frauen aus dem dritten Studienjahr als Mitglieder zugelassen. Ich fand Hinweise auf obskure Zeichen, Zahlensymbolik, geheime Zufluchtsorte und heimliche Initiationsrituale, aber kein Wort über Afton Delacourts Ermordung und nur eine flüchtige Bemerkung über den Niedergang der Organisation.
Als Nächstes gab ich den Namen Hannah Fischer ins Suchfeld ein und bekam mehr als ein Dutzend Links, aber nur einer führte mich zu einer Frau, die in der Nähe von Charleston lebte, und die hatte unlängst ihren neunundneunzigsten Geburtstag gefeiert.
Am Nachmittag, als ich Devlin gegenüber den Namen Tom Gerrity erwähnt hatte, hatte ich den Eindruck gewonnen, alsgäbe es zwischen den beiden böses Blut. Doch ich war so versessen darauf gewesen, vom Friedhof wegzukommen, dass ich der Sache nicht weiter nachgegangen war. Jetzt wäre ich froh gewesen, wenn ich von ihm mehr darüber erfahren hätte.
Ich schaute auf den Computerbildschirm, und meine Finger lagen regungslos auf der Tastatur. Eine letzte Suche stand noch aus.
Mariama Devlin.
Schon als ich ihren Namen eingab, bekam ich Schuldgefühle und ein bisschen Angst, denn egal, wie ich versuchte, mein Interesse zu rechtfertigen, steckte ich doch meine Nase in Devlins Privatangelegenheiten. Ich war nicht besser als Ethan oder Temple, die beim Abendessen gierig und genüsslich Stücke aus Devlins Leben herausgerissen hatten – wie Geier, die sich über einen Kadaver hermachen.
Doch mein Abscheu vor dem, was ich hier tat, hielt mich keineswegs davon ab.
Der erste Link führte mich zu einem Zeitungsartikel über den Unfall, und was dort stand, stimmte mit dem überein, was Ethan erzählt hatte. Der Wagen war in einer ländlichen Gegend durch ein Brückengeländer gebrochen und in einen Fluss gestürzt. Das Einzige, was Ethan versäumt hatte zu erwähnen, war, dass Mariama nur wenige Sekunden vor ihrem Tod hysterisch bei der Polizei angerufen hatte, zu einem Zeitpunkt, als der Wagen bereits mit Wasser volllief. Schon da musste ihr bewusst gewesen sein, dass die Rettungskräfte niemals rechtzeitig kommen würden. Unfähig, ihren eingeklemmten Sicherheitsgurt zu lösen, konnte sie weder sich selbst befreien noch ihre vierjährige Tochter.
Ich ließ den Kopf auf die Lehne der Chaiselongue sinken und schloss die Augen. Es fiel mir nicht sonderlich schwer, mir die schauerliche Szene bildhaft vorzustellen. Den Aufprall, der einem die Knochen im Leib durchrüttelte. Den schlammigenFluss und das Wasser, das über die Windschutzscheibe schwallte. Die scheußliche Schrägstellung des Autos, als es sank.
Im Wageninneren Mariama, die an ihrem Sicherheitsgurt zerrte, die verzweifelt mitansehen musste, wie das Wasser immer höher stieg, während sie zugleich versuchte, ihr verängstigtes Kind zu beruhigen.
Und dann, als der Wagen auf dem Grund des Flusses aufkam, die Dunkelheit.
Lass mich nicht hier zurück … bitte, Mami …
Die Schreie klangen so real, dass ich die Augen aufschlug und mich umsah.
Ich war ganz allein mit meinem wild klopfenden Herzen.
Ich presste eine Hand auf meine Brust und holte schaudernd Atem. Wie oft hatte Devlin diese Bilder wohl schon in seinen Albträumen gesehen? Wie oft hatte ihn das verzweifelte Flehen seiner Tochter wohl schon aus dem Schlaf gerissen?
Kein Wunder, dass er eine Weile von hier wegmusste, um sich mit seiner Trauer auseinanderzusetzen.
Die Schuldgefühle, dieses endlose Wenn-ich-doch-nur – das alles musste eine unerträgliche Qual gewesen sein.
Und seine Geister hatten diese Pein frisch erhalten. Solange er heimgesucht wurde, würden seine Wunden nie verheilen.
Ich hielt einen Moment lang inne, um meine Gedanken zu ordnen, dann las ich weiter.
Der Unfall war in einer abgelegenen Ecke des Beaufort County passiert, nicht weit entfernt von einer Stadt namens Hammond. Mariama und ihre Tochter waren unterwegs gewesen zu einem Familienbesuch, als die Tragödie geschah.
Zwei Fotos gab es in dem Zeitungsartikel. Das eine war eine Großaufnahme von dem durchbrochenen Brückengeländer, und auf dem zweiten Bild sah man die Schaulustigen, die sich am Flussufer drängten und darauf warteten, dass die Rettungstaucher wieder heraufkamen.
Ich sah mir die Gesichter in der Menge nicht genauer an, denn ich wollte Devlins Gesicht nicht finden. Ich wollte seine Augen in diesem entsetzlichen Moment
Weitere Kostenlose Bücher