Totenhauch
so alt war wie Oak Grove, einen Lageplan zu erstellen, war immer eine Herausforderung, nicht viel anders, als ein Puzzle zusammenzusetzen. Fehlende Grabmarkierungen, verloren gegangene Aufzeichnungen, unleserliche Grabsteine, überwucherte Gräber – die Zeit richtete Chaos und Verwüstung an, nicht nur an den Lebenden, sondern auch an den Toten.
Ich war so vertieft in meine Arbeit, dass ich die scharrenden Geräusche zunächst gar nicht wahrnahm.
Erst nach einer Weile hob ich den Kopf, saß da, ohne mich zu rühren, und fragte mich, ob sich vielleicht eine Maus den Weg in einen der Archivierungskartons genagt hatte.
Das Archiv befand sich im Kellergeschoss der Bibliothek vonEmerson, ein Labyrinth aus geheimnisvollen Nischen und düsteren Gängen, die an endlosen Reihen vollgestopfter Regale entlangführten.
Normalerweise machte mir die dunkle Enge geschlossener Räume nichts aus, aber bei diesem Geräusch, das ich nicht einordnen konnte, breitete sich eine leichte Panik in mir aus. Von dem Schreibtisch, an dem ich arbeitete, schaute man auf eine breite Treppe, die in den ersten Stock führte. Seit ich hier saß, hatte ich niemanden herunterkommen sehen.
Das Ganze hatte überhaupt nichts zu bedeuten, redete ich mir ein. Das Gebäude war alt, unheimlich und voll von Geräuschen und Gerüchen der Vergangenheit. Nicht anders als die zahllosen anderen Kellerarchive, in denen ich so manche glückliche Stunde damit verbracht hatte, mich in die Leben derer hineinzuversetzen, die schon lange tot waren.
Ich schüttelte die Gedanken ab und wandte mich wieder meiner Arbeit zu.
Da war das Geräusch wieder – ein wildes Kratzen und dann ein dumpfer Schlag.
Einer der Kartons musste auf den Boden gefallen sein. Nicht das Werk einer Maus, da war ich mir ziemlich sicher.
Ich legte den Kopf schräg und lauschte, und ich spürte, wie mir die Furcht über den Rücken kroch.
Im nächsten Moment sah ich einen Schatten am Ende eines Ganges, und ich schnappte nach Luft, aber dann bemerkte ich, dass es ein Mensch war und nicht das furchterregende Ding, dem ich vor den Pforten von Oak Grove begegnet war.
»Hallo?«, rief ich mit lauter Stimme.
»Hallo!«, schallte es überrascht zurück. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass hier unten noch jemand ist. Sitzen Sie schon lange hier?«
»Etwa zwei Stunden.« Ich blinzelte in die Dunkelheit. »Ich habe Sie nicht die Treppe herunterkommen sehen.«
»Ich habe die Hintertreppe benutzt. Ich nehme an, deshalb haben wir uns verpasst.« Er kam auf mich zu, aber ich erkannte sein Gesicht und seine Stimme erst wieder, als er schon dicht vor mir stand. »Ms Gray, nicht wahr? Daniel Meakin. Wir sind uns im Rapture begegnet.«
»Ja, natürlich. Schön, Sie wiederzusehen, Mr Meakin.«
»Bitte nennen Sie mich Daniel.«
Ich neigte den Kopf. »Amelia.«
Er schaute auf die Akten und Dokumente, die auf dem Schreibtisch lagen. »Noch mehr Recherche zu Oak Grove?«
»Ja.« Ich erzählte ihm von den Gräbern ohne Namen und den Namen ohne Gräber.
»Scheint ja ein rechtes Gräber-Tohuwabohu zu sein.«
Ich lächelte. »In der Tat.«
»Und sie passen nicht zusammen?«
»Leider nicht. Aber vielleicht können Sie mir helfen. Wenn ich das Ganze richtig verstehe, stand früher eine Kirche neben dem Friedhof von Oak Grove.«
»Ja, es ist sogar so, dass der alte Teil des Friedhofs zum Besitz dieser Kirche gehört hat. Als das Gebäude abgerissen wurde, haben die Verantwortlichen der Stadt die damals abgelegene Lage genutzt, um gleich neben dem alten Kirchhof einen neuen, eher parkartigen Friedhof anzulegen. Mit der Zeit haben die Leute vergessen, dass es da einmal eine Grenze gab, und beide Friedhofsabschnitte wurden bekannt als Oak Grove.«
»Wissen Sie, ob irgendwelche alten Unterlagen verloren gegangen sind oder vernichtet wurden, als man die Kirche abgerissen hat?«
»Das ist gut möglich. Viele von den alten Dokumenten sind während und nach dem Bürgerkrieg verbrannt worden. Einige hat man vielleicht verlegt oder hier unten falsch abgelegt.« Mit gerunzelter Stirn sah er sich um. »Genau wie Oak Grove sind auch diese Archive jahrelang sträflich vernachlässigt worden.Das System muss ganz dringend von Grund auf neu geordnet werden.«
»Da gebe ich Ihnen recht. Ich habe unmäßig viel Zeit damit verbracht, hier unten in diesen alten Kartons herumzustöbern.«
»Meine Lieblingsbeschäftigung«, erwiderte er mit einem Lächeln.
»Meine auch.«
»Die Einsamkeit macht Ihnen nichts aus?«,
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