Totenhauch
– das Recht hatte, hier zu sein.
Sehr lange blickte er hinunter auf Mariamas Grabstein, dann kniete er sich auf den Boden und legte etwas auf Anyikas Grab. Es war sehr still auf dem Friedhof. Ich bildete mir ein, ich könnte seine Stimme hören.
Nach einer Weile stand er auf und schritt über den Friedhof. Hinaus auf die Straße. Ich hörte, wie die Tür seines Wagens zuschlug.
Ich wartete, bis das Geräusch des Motors verklungen war, bevor ich mich aus meinem Versteck wagte. Dann traf ich einen Entschluss, für den ich mich schämte und den ich später bitter bereuen sollte: Statt den Friedhof sofort zu verlassen, ging ich zurück zu den Gräbern, um zu sehen, was Devlin dagelassen hatte.
In die Mitte des Herzens aus Nussschalen hatte er eine antike Miniaturpuppe gelegt. Sie war handbemalt, hatte dunkle Gesichtszüge und trug einen Sonnenschirm aus Spitze, einen Reifrock aus Seide und Schnallenschuhe. Es war das Erlesenste, was ich je gesehen hatte.
Diese Gabe rührte etwas in mir auf. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten, und ich versuchte, sie wegzublinzeln.
Im nächsten Moment hörte ich eine Stimme, die so sanft war wie das Flüstern der Bäume. Einen Namen …
»Shani …«
Einen Augenblick dachte ich, ich hätte es mir wohl eingebildet, aber dann blickte ich auf und stellte fest, dass ich nicht mehr allein war. Eine alte Frau und ein etwa zehnjähriges Mädchen standen unter den ausladenden Ästen eines Baumes und beobachteten mich.
Ungeschickt richtete ich mich auf. »Hallo …«
Die Frau hob die Hand, und ich verstummte.
Sie trug einen verwaschenen roten Rock, der ihr um die Fußknöchel flatterte, und eine grüne Bluse, die bis zum Hals zugeknöpft war. Ihre Haare waren grau und drahtig, und sie hatte es im Nacken zu einem lockeren Knoten hochgesteckt.
Das Mädchen war der Inbegriff von Jugend. Sie sah aus, als würde sie nur aus Armen und Beinen bestehen, in ihrer abgeschnittenen Jeans und in der zitronengelben Bluse, die ihren wunderschönen Hautton zur Geltung brachte. Eine wilde Lockenmähne umrahmte ein engelsgleiches Gesicht, das durch die hellgrünen Augen noch atemberaubender aussah.
Der Gegensatz hätte nicht auffälliger sein können, und dennoch lag in dem wettergegerbten Gesicht nicht weniger Schönheit und Anmut als in dem des Kindes.
Sie gingen auf die Gräber zu. Sie waren beide barfuß, aber die dünnen Zweige und Tannenzapfen, mit denen der Boden übersät war, schienen ihnen nichts auszumachen.
Die Frau blieb zwischen den Grabsteinen stehen und murmelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Dann zog sie eine kleine Schachtel aus ihrer Rocktasche, leerte irgendetwas in ihre Hand und blies es in die Luft. Ich sah etwas Blaues aufblitzen, bevor der Wind die schimmernden Teilchen davontrug.
Sie wandte mir wieder den Blick zu und musterte mich schweigend.
»Ich heiße … Amelia«, sagte ich schließlich, weil ich die Stille keine Sekunde länger ertragen konnte.
Das Mädchen hüpfte herüber und hakte sich bei der Frau unter. »Ich heiße Rhapsody. Und das hier ist meine Großmutter.«
»Rhapsody«, wiederholte ich. »Was für ein hübscher Name.«
»Er bedeutet übermäßig enthusiastisch. Ein Zustand von überschwänglicher Glückseligkeit.«
Sie war stolz wie ein Pfau, und im nächsten Moment beugte sie sich vor und kratzte sich am Knie. »Bist du hier, weil Shani heute Geburtstag hat?«
»Wer ist Shani?«
Sie zeigte mit dem Finger auf das winzige Grab.
»Warum nennst du sie Shani? Auf dem Grabstein steht Anyika.«
»Shani ist ihr Korbname.«
Ich erinnerte mich, einmal gelesen zu haben, dass es bei den Gullah Tradition war, einem Menschen zwei Namen zu geben. Jedes Kind bekam nach seiner Geburt einen offiziellen Namen und zugleich einen wesentlich intimeren Spitznamen, der innerhalb der Familie benutzt wurde, und dieser geheime Kosenamewurde ihnen gegeben, wenn sie noch so klein waren, dass sie in einen Reiskorb passten.
Rhapsody drehte eine ihrer dunklen Locken um den rechten Zeigefinger. »Mein Korbname ist Sia, und zwar aufgrund der Tatsache, dass ich das erstgeborene Mädchen bin.«
»Was bedeutet der Name Shani?«
Mit den Händen malte sie ein Symbol in die Luft. »Mein Herz.«
Meine Knie begannen zu zittern, und zugleich durchrieselte mich ein eisiger, betäubender Schauer, denn ich musste wieder an das Herz denken, das sich auf meiner Fensterscheibe gebildet hatte. Shani hatte mir sagen wollen, wer sie war. Sie hatte
Weitere Kostenlose Bücher