Totenhauch
wollte er wissen. »Ganz viele Menschen finden diesen Ort bedrückend.«
»Allein zu sein hat mir noch nie etwas ausgemacht.« Die Einsamkeit war eine alte Freundin. »Ich wünsche mir nur, dass ich finde, was ich brauche.«
»Wissen Sie, ich glaube, ich habe in meinem Büro ein paar Bücher über Oak Grove. Ich werde mal nachsehen, wenn ich wieder oben bin, und schauen, ob ich irgendetwas finde, was Ihnen nützlich sein könnte.«
»Danke. Das ist sehr nett von Ihnen.«
Während unserer Unterhaltung hielt er sein linkes Handgelenk die ganze Zeit ungeschickt und steif an der Seite, sodass ich an Temples Mutmaßungen über seine Narben und einen möglichen Selbstmordversuch denken musste.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, trat er plötzlich wieder zurück ins Dunkel. »Ich sollte Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten.«
»Nur eins noch, bevor Sie gehen …«
Dienstbeflissen wartete er.
»An dem Abend beim Essen haben Temple und Ethan erwähnt, dass Sie zur gleichen Zeit in Emerson für den Bachelor studiert haben wie sie. Sie haben also anscheinend schon ziemlich lange mit der Universität zu tun.«
»Etwas zu lange, denke ich manchmal.« Wieder dieses missbilligende Lächeln.
»Während meiner Recherche bin ich auf eine geheime Studentenverbindung auf dem Campus gestoßen. Sie hieß Order of the Coffin and the Claw . Wissen Sie irgendetwas darüber?«
Er sah nicht so aus, als sei er allzu erpicht darauf, mir zu antworten. Unschlüssigkeit flackerte in seinem Blick. »Ich weiß ein bisschen was darüber, aber ich glaube nicht, dass Ihnen das dabei hilft, Ihr Problem mit den Gräbern zu lösen.«
»Nein, das ist mir klar. Nur findet man in der Sepulkralkunst oft Symbole und Bilder von geheimen Organisationen. Und ich dachte, ich wäre in Oak Grove vielleicht auf eine Spur von diesem Geheimbund gestoßen.«
»Über die Symbole kann ich Ihnen gar nichts erzählen. Die sind aus gutem Grund geheim. Was ich Ihnen erzählen kann, ist, dass die Studentenverbindung im zwanzigsten Jahrhundert eine ganz andere Organisation war als die, die im achtzehnten Jahrhundert gegründet wurde. Die Evolution war meiner Meinung nach nicht immer erfolgreich.«
»Ich habe irgendwo gelesen, dass die Statuten in den Achtzigerjahren geändert wurden, damit auch Frauen Mitglied werden konnten.«
»Eine der aufgeklärteren Phasen. Obwohl ›Aufgeklärtheit‹ eine eher unzutreffende Bezeichnung ist, wenn man eine Organisation beschreibt, die im Kern darauf ausgerichtet ist, andere auszuschließen.«
»Mir scheint, Sie haben nicht viel übrig für solche Gemeinschaften.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe grundsätzlich ein Problem mit Elitedenken. Ich neige von Natur aus eher zum Sturm auf die Bastille.«
Bei dieser Selbsteinschätzung musste ich innerlich schmunzeln. Es fiel mir schon schwer, mir Daniel Meakin mit einem Taschenmesser in der Hand vorzustellen, geschweige denn Schwert und Muskete schwingend.
»Dass die Mitgliedschaft in einem Geheimbund nur einerElite vorbehalten ist, hat nur einen einzigen Grund«, sagte er. »Die bereits vorhandenen Mitglieder zu stärken und zu schützen. Um jeden Preis.«
»Was meinen Sie mit: um jeden Preis?«
»Genau das.«
»Glauben Sie, dass der Orden etwas mit dem Mord an Afton Delacourt zu tun hatte?«
Die Frage schien ihn sehr nervös zu machen. Er blickte über die Schulter, in Richtung Treppe. »In gewissen Kreisen ist das immer noch ein sehr heikles Thema. Ich glaube, es ist das Beste, das arme Mädchen in Frieden ruhen zu lassen.«
»Aber da es jetzt einen weiteren Mord gegeben hat, werden zwangsläufig Fragen aufkommen«, wandte ich ein.
»Mit diesen Fragen wird sich bestimmt die Polizei befassen.«
»Natürlich, nur …«
»Es tut mir leid. Sie müssen mich jetzt wirklich entschuldigen. Ich habe einen Termin und bin spät dran …«
Er konnte gar nicht schnell genug von mir wegkommen.
Sein überhasteter Rückzug erinnerte mich daran, wie Temple meine Fragen nach Afton Delacourts Ermordung abgewürgt hatte. Fünfzehn Jahre waren seit der Tat vergangen, aber die Sache wurde immer noch vertuscht.
Ich sah, wie Meakin in einem der Gänge verschwand, und erst da bemerkte ich, dass wir nicht allein gewesen waren. Ich hatte keine Ahnung, seit wann Camille Ashby hier unten war oder warum sie sich nicht bemerkbar gemacht hatte. Sie stand hinter dem Treppenaufgang in einer dunklen Ecke, sodass sie unsere Unterhaltung gut hatte mitverfolgen können. Ich
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