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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Stevens
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den Weg ins Jenseits leuchten sollten, zerbrochenes Keramikgeschirr   – Krüge, Schalen, Tassen, Schüsseln   –, um die Ketten des Todes zu sprengen. Ganze Abschnitte des Friedhofs waren bedeckt mit weißem Sand, der gegen die Bakulu schützen sollte, gegen rastlose Geister, die in unserer Welt blieben, um auf die Lebenden Einfluss zu nehmen.
    Ich war mitten im Land des Aberglaubens, in der Heimat der legendären Hexe des Lowcountry, der sogenannten Boo Hag , einer Frau, die   – laut Papas alten Geschichten   – Zauberei und Hexenkunst betrieb. Wenn es Nacht wurde, verließ die Hexe ihren Körper und streifte ungehindert durch das Land, um aus dem Atem ihrer Opfer neue Lebenskraft zu saugen. Sehen konnte man sie nicht, wohl aber spüren. Ihre Berührung war warm, sagte Papa, und fühlte sich an wie rohes Fleisch.
    »Dann ist sie aber kein Geist«, entgegnete ich in einer für mich schlüssigen Logik. »Deren Berührung ist kalt und feucht. Dabei fühle ich mich immer, als hätte man mich in einer Gruft eingesperrt.«
    »Schschsch«, mahnte Papa mich. »Lass deine Mutter nicht hören, dass du über solche Dinge redest.«
    Ich verstummte zwar sofort, wie es sich für eine brave Tochtergehörte, doch es störte mich, dass ich diesen Teil meines Lebens nicht mit Mama teilen konnte. Nach jeder Begegnung mit einem Totengeist sehnte ich mich danach, dass sie die Arme um mich schlang, mich an sich drückte und mich beschützte vor den Gefahren, die an unseren Fenstern vorüberschwebten, wenn es dunkel wurde.
    Hatte sich durch den ersten Totengeist, den ich gesehen hatte, meine Beziehung zu meinem Vater verändert, so hatten Papas Regeln eine Kluft zwischen mir und meiner Mutter geschaffen. Die Bindung, die ich gern zu ihr gehabt hätte, konnten wir nie entwickeln, weil ich ihr etwas verschwieg.
    Auch Papa verschwieg etwas, und seine Geheimnisse waren für uns beide zu einer schweren Last geworden.
    Mariamas und Anyikas Gräber befanden sich nicht weit vom Eingang im neueren Abschnitt des Friedhofs. Unter den knorrigen Ästen einer uralten Lebenseiche hatte man sie nebeneinander zur letzten Ruhe gebettet. Mariamas Grab war ähnlich geschmückt wie die anderen Gräber, doch Anyikas winzige letzte Ruhestätte hatte nur wenig Verzierung. Ein schlichter Grabstein und ein paar verstreute Sanddollars und Wellhornschnecken.
    Was mich aber am tiefsten traf, war das Geburtsdatum auf dem Stein. Heute wäre ihr Geburtstag gewesen.
    Ich kniete mich auf den Boden, klaubte vorsichtig die welken Blätter vom Grab und legte dabei ein Herz frei, das jemand aus Nussschalen geformt hatte.
    Langsam fuhr ich mit dem Zeigefinger die Umrisse nach und sah dabei vor meinem inneren Auge das Herz, das sich auf meinem beschlagenen Fenster gebildet hatte.
    Plötzlich hörte ich das Knirschen von Schotter. Es kam von der Straße her. Ein Wagen näherte sich. Ich erwartete, dass er vorbeifahren würde, aber er hielt an, und eine Sekunde später wurde eine Wagentür zugeschlagen.
    Ich erhob mich und lief schnell weg. Ich hätte es nicht erklären können, aber ich wollte nicht, dass irgendjemand mich an diesen Gräbern sah. Da ich nicht genug Zeit hatte, um den ganzen Weg zu meinem SUV zurückzulaufen, stellte ich mich hinter einen Baum und hoffte, dass niemand in meine Richtung kommen würde.
    Hinter den massiven Baumstamm gedrängt stand ich da und sah, wie der Besucher durch den bogenförmigen Eingang trat, die Schultern vorgeschoben, den Kopf leicht gesenkt. Ich erkannte ihn sofort. Es war Devlin.

SECHZEHN
    Kaum hatte er den Friedhof betreten, hob er den Kopf, blieb stehen und suchte mit den Augen das Gelände ab, als würde er meine Gegenwart spüren.
    Wahrscheinlicher war jedoch, dass er durch seine jahrelange Arbeit als Cop an abgelegenen Orten grundsätzlich auf der Hut war. In jedem Fall wich ich ruckartig zurück und presste mich fest gegen die Borke. Als ich keine Schritte hörte, die sich in meine Richtung bewegten, wagte ich einen weiteren Blick.
    Devlin war weitergegangen und stand nun zwischen den Gräbern von Mariama und Anyika. Er wandte mir den Rücken zu, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, und dafür war ich dankbar. Ich hasste mich dafür, dass ich ihn in einem so intimen Moment bespitzelte, doch ich konnte den Blick nicht von ihm losreißen. Vielleicht wollte ich es aber auch einfach nicht. Vielleicht hatte ich mir inzwischen selbst eingeredet, dass ich wegen meiner Verbindung zu dem Geisterkind   – und zu Devlin

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