Totenhauch
du mir diese ganzen Fragen über Daniel Meakin? Ich dachte, du wolltest über Afton reden.«
»Das will ich auch. Erzähl mir alles, was du weißt.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich denke, am deutlichsten ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben, wie verängstigt wir alle waren, als die Leiche gefunden wurde.«
»Wir?«
»Meine Freunde. Jeder, den ich kannte, hatte auf diesem Friedhof irgendwann mal eine Party gefeiert. Das gehörte in Emerson sozusagen zum Initiationsritus. Zu hören, dass man dort ein Mädchen ermordet hatte, war erschütternd.«
»Hast du Afton gekannt?«
»Nur vom Hörensagen. Sie war ein reiches, verwöhntes Partygirl, das bis zu seiner Ermordung ein Heer von Schutzengeln gehabt hatte.«
Ich wusste nicht, ob die Ironie beabsichtigt war. Bei Temple war so etwas immer schwer zu sagen. »Sie hat aber nicht in Emerson studiert, oder?«
»Jeder Typ auf dem Campus, der was auf sich hielt, hat was mit ihr gehabt. Das haben sie wenigstens behauptet.«
»Ist nach ihrer Ermordung viel darüber geredet worden, dasssie mit einem Mitglied dieser Studentenverbindung zusammen war, diesem Order of the Coffin and the Claw ?«
»Ein bisschen.«
»Hast du einen von den Claws gekannt?«
»Schon möglich, aber ich hätte es nicht gewusst.«
»Hat nie jemand irgendetwas rausgelassen?«
»Über die Claws ? Nie.«
»Aber Emerson ist so eine kleine Universität. Ihr müsst doch den einen oder anderen in Verdacht gehabt haben.«
»Herumspekuliert wurde schon. Die Mädchen, die ich kannte, hätten es als eine Art Coup betrachtet, mit einem Claw zu schlafen und ihn dann zu outen. Oder sie.«
»Sind dir jemals Gerüchte über okkulte Praktiken zu Ohren gekommen?«
»Diesem Kram hat nie jemand Beachtung geschenkt.«
Ich horchte auf. »Geredet wurde also schon darüber.«
»Diese ganzen geheimen Initiationen, die mitternächtlichen Orgien und dionysischen Riten – nichts weiter als die feuchten Träume von einem Haufen Verbindungsbrüdern.«
»Du warst nie bei so einem Treffen?«
Sie runzelte die Stirn. »Worauf willst du eigentlich hinaus?«
Ich zögerte, weil der Kellner ihr gerade einen weiteren Drink brachte. »Ich dachte, dass du vielleicht ein bisschen Insiderwissen über die Claws hast.«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass dem nicht so ist.«
»Ich weiß, aber an dem Abend beim Essen hast du erwähnt, dass du und Camille im dritten Studienjahr eine Weile ein Zimmer miteinander hattet. Du hast gesagt, ihr seid durch die Umstände aufeinander getroffen. Und ich habe unlängst gelesen, dass die Statuten der Claws geändert wurden, damit auch Frauen Mitglied werden konnten. Zwei Frauen aus dem dritten Studienjahr. Deshalb dachte ich, dass …«
»Dass ich eine Claw bin?« Sie kicherte leise in sich hinein.»Na ja, das wäre eine unerwartete Wendung, oder? Ganz besonders, wenn ich was mit Afton gehabt hätte.«
Diese Bemerkung traf mich völlig unvorbereitet. Eine Beziehung mit Afton Delacourt war mir nie in den Sinn gekommen.
»Bevor du fragst: Nein«, sagte sie rundheraus.
»Ich hatte nicht vor, zu fragen. Und ich finde nicht, dass die Annahme, dass du eine Claw bist, so weit hergeholt ist. Ich denke, du bist genau das, was sie an neuen Mitgliedern gesucht haben – gescheit, ehrgeizig, attraktiv.«
»Und arm. Ich habe mit einem Vollstipendium in Emerson studiert. Fetter schwarzer Punkt gegen mich.« Sie rührte in ihrem Drink. »Auch wenn das nicht der Grund war. Ich war nie ein Gruppenmensch oder ein Mitläufer, und ich hasse Zeremonien und Rituale. Wahrscheinlich bin ich deswegen eine nichtpraktizierende Katholikin.«
Kategorisches Leugnen konnte man das nicht gerade nennen, stellte ich fest.
»Da wir gerade von Zeremonien und Ritualen sprechen, hast du jemals von etwas gehört, was sich Egregor nennt?«
»Egre-was?«
»Egregor. Eine geistige Wesenheit. Eine körperliche Erscheinungsform des kollektiven Denkens. Es gibt ein paar geheime Organisationen, die sie durch Zeremonien und Rituale erschaffen.«
Ihre Augen wurden ganz schmal. »Wo hast du diesen ganzen Krampf her?«
»Ich war heute bei Rupert Shaw.«
»Aha! Also jetzt ergibt das alles langsam einen Sinn.«
»Und zwar?«
»Du. Diese Fragen.«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Schau, ich kenne Rupert seit vielen Jahren. Er war einer meiner Lieblingsprofessoren in Emerson, und ich halte ihn füreinen der letzten echten Gentlemen des Südens. Aber machen wir uns nichts vor. Der Mann hat schon lange nicht
Weitere Kostenlose Bücher