Totenhauch
Schlafzimmers ab. Ich war allein, natürlich war ich allein; meine einzige Gesellschaft waren die nächtlichen Geräusche in meiner Wohnung. Knarzende Bodendielen. Ein klappernder Lüftungsschacht. Die Schritte meines Nachbarn über mir.
Ich blickte an die Zimmerdecke.
Da Macon Dawes so selten zu Hause war, wunderte es mich, dass ich ihn jetzt da oben hörte. Irgendwie war es tröstlich zu wissen, dass ein anderer warmer Körper ganz in der Nähe war.
Ich schlüpfte aus dem Bett, tappte zum Fenster und schaute hinaus. Die Gartenmauer versperrte mir den Blick auf die Garageneinfahrt, aber sie verhinderte auch, dass Leute von der Straße oder der Nachbar, der nebenan wohnte, in mein Schlafzimmer sehen konnten. Ich machte mir nicht immer die Mühe, die Fensterläden zu schließen. Doch jetzt zog ich sie ganz fest zu und legte mich wieder ins Bett.
Als ich mich unter die Bettdecke kuschelte, wanderten meine Gedanken zurück zu Dr. Shaw.
Ich erinnerte mich daran, wie scharf seine Stimme geworden war, als er mich fragte, ob ich schon einmal ein Nahtoderlebnis gehabt hätte. Vor meinem geistigen Auge sah ich, dass in seinen Augen etwas schimmerte … Neugier? Besessenheit?
Genau das, was Temple mir vorgeworfen hatte.
Siehst du, wie einfach es ist, die Absichten eines Menschen falsch zu verstehen?
Ich steigerte mich da in etwas hinein, was auf reinem Hörensagen beruhte. Dr. Shaw war ein harmloser, in sich gekehrter Mensch mit einem interessanten Beruf. Das Gleiche konnte man über mich sagen.
Höchste Zeit, dass du dich mit etwas anderem beschäftigst.
Ich musste mein Hirn mit angenehmeren Gedanken füllen, bevor ich versuchte einzuschlafen. Und ausnahmsweise würde ich mich einmal nicht mit Devlin befassen.
Gräber schaufeln war immer eine wohltuende Ablenkung, obwohl sich mein Blog inzwischen auch zu einem lukrativen Geschäft entwickelt hatte. Regelmäßig interessante Texte zu schreiben war eine Herausforderung, und es war auch zeitaufwendig, aber an den meisten Abenden hatte ich eh nichts Besseres zu tun.
Ich musste noch auf die Kommentare zu meinem letzten Eintrag eingehen – »Vergiftet von seiner Ehefrau und Dr. Cream: Ungewöhnliche Grabinschriften« –, und als ich die Reaktionen jetzt überflog, spürte ich, dass ich mich allmählich entspannte. Hier war ich in meinem Element, teilte meine Leidenschaft und meine Erfahrungen mit Taphophilen und Online-Bekanntschaften aus der ganzen Welt. Im Cyberspace brauchte ich nicht über die Schulter nach Geistern zu schauen.
Als ich mit der ersten Hälfte der Seite durch war, blieb mein Blick an einem anonymen Beitrag hängen – nicht, weil der Beitragschreiber keinen Nickname benutzt hatte. Das war ziemlich verbreitet. Sondern, weil ich das Epitaph wiedererkannte:
D ie Mitternachtssterne weinen
Über ihrem stillen Grab.
Tot und doch träumend,
Für dieses Kind
Es keine Rettung gab.
Das stand auf dem Stein des Grabes, in dem man Hannah Fischers Leiche gefunden hatte.
Wie seltsam. Und mehr als nur ein bisschen beunruhigend.
Ich blickte vom Bildschirm auf, um abermals mit Blicken mein Schlafzimmer abzusuchen. Ich war immer noch allein. Aber jetzt war es totenstill im Haus. Die Klimaanlage lief nicht im Moment, und über mir waren keine Schritte mehr zu hören. Macon Dawes war endlich schlafen gegangen.
Ich wandte mich wieder dem Epitaph zu.
Der Kommentar war vor ein paar Stunden erschienen, eine ganze Zeit nachdem ich mich das letzte Mal eingeloggt hatte. Ich wollte gern glauben, dass es einfach nur ein beliebiger Beitrag war, einer dieser merkwürdigen Zufälle, aber das war zu viel verlangt.
Wer außer mir konnte von diesem Epitaph wissen?
Devlin natürlich.
Und der Mörder …
Ich schnappte mir das Telefon, das auf meinem Nachttisch lag, scrollte durch die Namensliste, bis ich zu Devlins Nummer kam, und drückte auf »Wählen«, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Der Anruf ging sofort zur Mailbox, und ich hinterließ eine kurze Nachricht.
Kaum hatte ich das Gespräch beendet, bedauerte ich auch schon, dass ich meinem Impuls gefolgt war. Was, wenn der Beitrag tatsächlich nur Zufall war?
Und überhaupt: Was sollte Devlin mitten in der Nacht tun? Selbst jemand, der nur ein paar Grundkenntnisse über das Internet hatte, wusste, wie man einen Proxyserver benutzte. Und jeder, der etwas zu verbergen hatte – wie etwa einen Mord –, würde zweifellos einen öffentlichen Computer benutzen, in der Bibliothek oder in
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