Totenhauch
mehr alle Tassen im Schrank.«
»Auf mich hat er einen vollkommen normalen Eindruck gemacht.«
Sie lächelte. »Das ist ein Talent von ihm. Er ist so nett, so sachlich und so vernünftig , dass du gar nicht mitbekommst, wie du anfängst, seine ganze Scheiße zu glauben, bis du eines Tages über die Schulter schaust, weil du Angst hast, der schwarze Mann könnte hinter dir her sein.«
Um mich in Acht zu nehmen vor dem schwarzen Mann, brauchte ich Rupert Shaw nicht.
»Er ist schon länger geistig labil«, sagte sie. »Ich bin sicher, dass Emerson ihn deshalb aufgefordert hat zu gehen.«
»Aber du hast doch gesagt, man hätte ihn aufgrund von haltlosen Gerüchten hinausgeworfen.«
»Die Gerüchte sind vielleicht haltlos gewesen, und ich glaube tatsächlich, dass jemand mit Absicht versucht hat, seinen Ruf zu zerstören, aber nichts von alledem hätte Konsequenzen gehabt, wenn da nicht sein Verhalten vorher gewesen wäre.«
»Meinst du damit die Séancen, die er mit ein paar von seinen Studenten abgehalten hat?«
»Es waren nicht nur die Séancen.« Mit bekümmerter Miene wandte sie den Blick ab. »Er hat sich so intensiv für den Tod interessiert, dass es schon an Besessenheit grenzte. Ich habe mich immer gefragt, ob das etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hatte. Sie war lange krank. Jahrelang, glaube ich. Seitdem hatte er irgendwie eine Schraube locker – vielleicht hat es ihn gequält, sie leiden zu sehen, oder er hatte Schuldgefühle, weil er darauf gewartet hat, dass sie stirbt. Ich weiß es nicht. Wie gesagt war er einer meiner Lieblingsprofessoren, aber es wundert mich nicht, dass er jetzt Dauerbewohner in Gaga City ist. Beziehungsweise in seinem lächerlichen Institut.«
»Ich habe sehr viel Zeit mit Dr. Shaw verbracht, und abgesehen davon, dass er hin und wieder mal den Faden verliert, macht er auf mich den Eindruck, als sei er bei klarem Verstand«, entgegnete ich. »Er wirkt auf mich ganz und gar nicht so, als wäre bei ihm eine Schraube locker .«
»Aber das ist doch immer so. Sogar ein Mensch, der so krank ist wie er, kann sich eine Weile zusammennehmen.« Ihr Lächeln verhärtete sich. »Und dann wachst du eines Nachts auf und musst erleben, dass sie mit einer Schere auf dich losgehen.«
Auch an diesem Abend legte ich mir Essies Amulett unter das Kopfkissen. Ich hatte keine Ahnung, ob in dem kleinen Beutel außer Dreck und Zimt – dem Placebo einer jeden Kräuterheilerin – sonst noch irgendetwas drin war, aber ich fühlte mich besser, wenn ich es bei mir hatte.
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Kopfende meines Bettes, klappte meinen Laptop auf und startete eine Suche. Während ich einen Artikel nach dem anderen überflog, in dem es um Schattenwesen und Egregore ging, fiel mir auf, dass mir schon den ganzen Abend etwas zu schaffen machte, was Temple vorhin gesagt hatte. Das schien symptomatisch zu sein für unsere Gespräche. Erkenntnisse kamen mir oft erst viel später.
Sie war lange krank. Jahrelang, glaube ich. Seitdem hatte er irgendwie eine Schraube locker – vielleicht hat es ihn gequält, sie leiden zu sehen, oder er hatte Schuldgefühle, weil er darauf gewartet hat, dass sie stirbt.
Bisher hatte ich keinen Zusammenhang hergestellt, aber jetzt wurde mir klar, warum mir Temples Spekulationen so großes Unbehagen bereiteten. Es hatte mit Dr. Shaws Theorie über den Tod zu tun – und mit der Warnung meines Vaters vor den Anderen. Wenn ein Mensch starb, ging eine Tür auf, die es einem Beobachter erlaubte, einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Je langsamer das Sterben vor sich ging, desto länger blieb diese Tür geöffnet, sodass man vielleicht sogar inder Lage war, hindurchzuschlüpfen und wieder zurückzukehren.
War es möglich, dass Dr. Shaw versucht hatte, eine Tür zur anderen Seite zu öffnen, indem er Afton Delacourt ermordete? War er dermaßen verzweifelt gewesen, dass er Kontakt zu seiner verstorbenen Frau aufnehmen wollte?
Ich versuchte, einen so abscheulichen, haltlosen Gedanken zu verdrängen, doch die üble Saat war schon aufgegangen, und ich spürte, wie mir die Eiseskälte einer unheimlichen Macht über den Körper kroch.
Hör mir gut zu, Amelia. Es gibt Wesenheiten, die du bisher noch nie gesehen hast. Kräfte, von denen ich nicht einmal zu sprechen wage. Sie sind eisiger, stärker und hungriger als jeder Totengeist, den du dir vorstellen kannst.
Ich setzte mich auf und suchte mit den Augen jede Ecke und jeden Winkel meines
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