Totenhaut
Ausbildung und Grundkenntnisse in kosmetischer Chirurgie. Aber sie verlangen keine einschlägige Berufserfahrung – genaugenommen verlangen sie überhaupt keine Erfahrung. Dazu kommt noch, dass das ein Gewerbe ist, das unter einem beklagenswerten Mangel an Normen und Standards leidet. Ständig lassen sie sich neue Einsatzgebiete und Techniken einfallen, und nur allzu oft ist die treibende Kraft dahinter Profitgier statt die Sorge um das Wohlergehen des Patienten. Meiner Meinung nach kein haltbarer Zustand.«
»Dann haben Sie sich also nie darum beworben, für Paragon zu arbeiten?«
O’Connor schnaubte. »Ganz bestimmt nicht. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, wenn Sie’s genau wissen wollen. Ein-, zweimal haben sie versucht, mich zu kaufen, aber ich bin nicht interessiert. Außerdem sind Ärzte auf der Suche nach Arbeit zu mir gekommen. Ich habe sie weggeschickt, weil sie keine Erfahrung hatten. Und ein paar Wochen später höre ich, dass Paragon sie eingestellt hat.«
»Wo sie richtige chirurgische Eingriffe vornehmen?«, fragte Jon.
»Richtige chirurgische Eingriffe.«
»Im Gegensatz zu dem, was Sie hier machen?«
»Korrekt. Ich habe mich auf ästhetische Medizin spezialisiert – im Großen und Ganzen Laserbehandlungen, Botox und Faltenunterspritzung. Alles nur an der Hautoberfläche. Aber die Industrie expandiert mit atemberaubender Geschwindigkeit. Jeder will ein Stück vom Kuchen, um die gängige Terminologie zu gebrauchen. Jetzt bieten sogar Zahnärzte nebenbei Botox-Behandlungen an. Sie haben eine medizinische Ausbildung und eine Spritze? Dann machen Sie mit! Reiche Ernte für jedermann.«
Jon dachte über die Worte des Arztes nach. »Wenn wir uns wieder der chirurgischen Sparte zuwenden, was meinen Sie, wie viele Leute sind in dieser Industrie beschäftigt?«
»Landesweit oder nur in Manchester?«
Jon spielte mit dem Gedanken, dem Doktor zu sagen, mit welcher Ermittlung sie beschäftigt waren, weil er davon ausging, dass der andere ohnehin bald selbst darauf kommen würde. »Fangen wir mal mit Manchester an.«
O’Connor runzelte die Stirn. »Nun ja, ich würde sagen, Paragon und seine drei Hauptkonkurrenten haben insgesamt rund zwölf Ärzte auf ihrer Gehaltsliste. Einige davon arbeiten als Chirurgen in NHS-Krankenhäusern hier in der Gegend und machen die Privatbehandlungen nebenbei, um ihr Einkommen aufzubessern. Wenn Sie sich schon unters Messer legen, dann sind das sicher die Chirurgen, die Sie als Patient haben wollen. Dann gibt es noch ein paar, die ausschließlich privat und kosmetisch operieren. Die arbeiten vielleicht zwei, drei Tage in Manchester, einen in Leeds und einen in Liverpool. Die gehen dahin, wo sich das beste Geschäft machen lässt. Ich könnte aber nicht sagen, wie viele davon es insgesamt in Manchester gibt. Fünfzig vielleicht?«
»Danke, dass Sie uns Ihre Zeit geopfert haben, Doktor«, sagte Jon und stand auf.
Draußen auf der Straße rümpfte Jon die Nase, als ein Lastwagen an ihnen vorüberdonnerte und eine dünne Abgaswolke hinter sich ließ. »Am besten sagen wir McCloughlin, dass er alle Chirurgen, die von Paragon und Konsorten bezahlt werden, auftreiben und befragen lässt.«
»Dürfte nicht allzu schwer sein, die Alibis der ambulanten zu überprüfen«, meinte Rick.
»Stimmt«, gab Jon ihm recht. »Sehen wir uns noch mal die Liste mit Gordon Deans Terminen an.«
Rick zog den Zettel heraus und hielt ihn straff gespannt gegen die Windstöße, die der vorbeirauschende Verkehr verursachte.
Jon zeigte auf den letzten Vormittagstermin. »Jake im Afflecks Palace. Das ist ein Tätowierstudio.« Er sah hinüber zur Great Ancoats Street. »Es ist gleich da drüben.
Bringen wir’s hinter uns?«
»Warum nicht?« Rick faltete das Blatt Papier zusammen.
Jon ging voran. Er überquerte die breite Straße und führte Rick durch das Gewirr von engen Straßen und heruntergekommenen Kleiderläden, die das Northern Quarter bildeten. Kurz darauf bogen sie um die Ecke eines Parkhauses. Der Geruch von Curry lag in der Luft.
Rick blickte auf das kleine Café mit seiner endlos langen, auf die Fenster gepinselten Speisekarte. »Das muss jetzt schon das sechste sein, an dem wir vorbeikommen.«
Jon nickte. »Hier haben die ersten Curry-Stuben von Manchester aufgemacht. Die indischen Arbeiter aus den unzähligen Fabriken und Lagerhäusern in der Gegend kamen zum Mittagessen hierher. Erst als sie genügend verdient hatten, gingen die Besitzer hinüber nach Rusholme und
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