Totenklage
sie so schnell wie möglich das nächste Bild sehen. Und ich flippe aus.
Ich schreie. Ich schreie wirklich. Das hat nicht nur was mit der Lautstärke zu tun – obwohl ich alles gebe –, sondern ist auch eine Frage der Energie. Wie ernst man es meint. Und ich meine es verdammt ernst.
» Fass das nicht an!«, schreie ich eines der Mädchen an – Luljeta –, die das Foto von Kapuscinski gerade zur Seite legen will. » Wag es ja nicht, das beschissene Foto anzurühren. Du kennst diesen Mann, oder nicht? Sieh mich an. Sieh mich an! Du kennst ihn, oder? Ja oder nein. Ich will eine beschissene Antwort! Und lüg mich nicht an.«
Luljeta hat eine Heidenangst. Alle – einschließlich Jane Alexander, die in ihrem taubenblauen Leinenkostüm neben mir auf dem Sofa sitzt – verstummen. Dann nickt Luljeta.
» Ja.«
» Wie heißt er? Wie lautet sein Name?«
Luljeta zögert und versucht, möglichst strategisch zu antworten, aber für Strategie bin ich viel zu sauer. Gerade als ich den Mund öffne, um sie noch einmal anzuschreien, kommt sie mir zuvor. Sie spricht leise, aber die Wahrheit.
» Wojtek. Ein Pole.«
» Nachname?«
Luljeta zuckt mit den Schultern. Vielleicht kennt sie seinen Nachnamen ja tatsächlich nicht.
» Kapuscinski, oder? Wojciech Kapuscinski. Stimmt doch?«
» Ja, glaub schon.«
» Was weißt du über ihn? Ich will alles wissen. Und zwar nicht nur von dir, Luljeta. Von allen hier.«
Es dauert ewig, und ich muss noch zweimal laut werden, aber schließlich haben wir, was wir wollen. Kapuscinski ist Sikorskys Mann fürs Grobe. Von Sikorsky heißt es, dass er die Morde an den Mancinis und an Edwards geplant, möglicherweise sogar selbst ausgeführt hat. Das ist aber nur Hörensagen, und für Hörensagen gibt es keine Durchsuchungsbefehle. Doch dann hebt Jayney, eine gebürtige Waliserin, ihr Top. Sie ist von der Hüfte bis zu den Schultern mit Blutergüssen und Schnitten bedeckt. Die Blutergüsse haben sich inzwischen gelb und blau verfärbt, aber es ist immer noch ein grässlicher Anblick. Man hat sie nicht nur mit den Fäusten traktiert – sondern auch mit Stiefeln und vielleicht sogar mit einem Stock oder einer Eisenstange oder etwas Ähnlichem.
» Der war das«, sagt sie. Dabei weint sie und zeigt auf das Bild von Kapuscinski. » Den schickt Sikorsky fast immer. Er hat gesagt, dass ich von jemand anderem was gekauft habe. Hab ich aber nicht. Ich hab in letzter Zeit einfach nur weniger genommen. Ich hatte Grippe und konnte nicht arbeiten, aber er hat mir nicht geglaubt. Er ist einfach hergekommen und …«
Sie fährt fort.
Jetzt ist Jane in der Rolle der perfekten Polizistin gefragt. Ihr Bleistift rast nur so über das Notizbuch und hält Namen, Orts- und Zeitangaben fest. Jayneys Beichte bewirkt bei Luljeta eine ganz ähnliche Reaktion, und schon bald haben wir eine ganze Reihe von Geständnissen. Eigentlich sind es Anklagen, obwohl sie aus ihren Mündern wie Geständnisse klingen. Am Ende haben wir nicht nur ausreichend Material, um gegen Sikorsky – den wir ja sowieso schon suchen –, sondern auch gegen Kapuscinski, einen Russen namens Yuri und einen anderen Mann namens Dimi vorzugehen.
Sie zu verhaften. Durchsuchungsbefehle ausstellen zu lassen.
Jane braucht etwa zwei Stunden, um das Beweismaterial festzuhalten, das aus ihnen heraussprudelt. Ich halte mich zurück und höre mehr oder weniger nur zu. Ich fühle mich leer und erschöpft. Ich sollte mir eigentlich Notizen machen, um Janes Bericht später ergänzen zu können, doch es geht nicht. Ich tue nur so, schreibe mir allerdings kaum etwas auf. Jayney hat ihr Top wieder heruntergezogen, aber ich kann trotzdem hindurchsehen, als wäre es unsichtbar. Für meine Augen sind nun alle Mädchen nackt. Zerbrechliche, von Blutergüssen übersäte Körper. Verletzungen, die wie bei Jayney im Hier und Jetzt oder, wie bei den anderen, auch in der Vergangenheit oder in der Zukunft existieren. Oder in der Vergangenheit und in der Zukunft. Verletzungen, die nicht verschwinden, sondern sich vermehren, egal, welcher Haufen von Arschlöchern gerade den Drogenmarkt kontrolliert. Wenn junge Frauen ihren Körper verkaufen, wird es immer Männer in Lederjacken geben, die dafür sorgen, dass der Profit in anderen Händen – in anderen Fäusten – landet.
Während Janes Befragung führe ich zweimal die Hand an die Augen. Doch ich spüre keine Tränen. Ich weiß nicht, ob andere Leute mitbekommen, wenn sie weinen, oder das auch mit ihren Händen
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