Totenklage
erzählen.
Ich fühle mich zunehmend von mir selbst, der Ermittlung, von Brydon, einfach von allem losgelöst. Da ich weiß, dass ich in diesem Zustand menschlichen Kontakt brauche, halte ich mich brav ans Notfallprotokoll, rufe meine Mam an, plaudere mit ihr, rufe Bev an, plaudere mit ihr, rufe Brydon an, lege wieder auf, als der Anrufbeantworter rangeht, und schreibe ihm eine SMS .
Dann rufe ich Jane an, die schon im Büro sitzt. Ich sage ihr, dass ich mich für heute Morgen entschuldigt habe. Sie sagt, ich soll mir keine Sorgen machen. » Das tut dir ganz gut.« Sie sagt auch, dass sie für heute Abend weitere Vernehmungstermine vereinbart hat, aber nur, » wenn du fit bist. Du musst dich dringend mal ausruhen«.
Wir wissen nie, wie wir die Prostituierten nennen sollen. Sie selbst nennen sich » Mädchen«, doch das klingt sehr herablassend. Wir nennen sie » Prostituierte«, ein ziemlich abfälliger Ausdruck. Gill Parker bezeichnet sie als die » Gemeinschaft der Sexarbeiterinnen«, was wie eine Mischung aus einer wichtigen Exportindustriebranche und einem Haufen Schwererziehbarer klingt. Was, wenn man es recht bedenkt, gar nicht so falsch ist.
Gegen Mittag fällt mir auf, dass ich noch nichts Richtiges gegessen habe. Ich nehme die Waffe von meinem Bauch, ziehe mich an und gehe auf der Suche nach etwas Essbarem zu einem Sandwichladen neben dem Aldi am Ende der Glyn Coed Road. Es ist ein ziemlich schäbiger Laden, doch zumindest kenne ich den Weg dorthin. Die verschlafene Bedienung stopft eine matschige Kombination aus Thunfisch und Mais in ein altbackenes Baguette und komplettiert das Ganze mit einem Salatblatt, das an den Rändern schon braun ist. Aber Essen ist Essen.
Ich setze mich auf einem Rasenstück gegenüber dem Aldi in die Sonne und esse. Dann sehe ich auf meinem Handy nach – eine Nachricht von Brydon. Ich hatte ganz vergessen, dass er gerade wieder in London ist. BIN MORGEN WAHRSCHEINLICH AUCH NOCH HIER . MELDE MICH SO BALD WIE MÖGLICH . DAVEX . Inzwischen beendet er seine SMS mit einem Küsschen. Auf Machoart natürlich, indem er sich von Dave in Davex verwandelt. Vielleicht ist er auch nur zu faul für das Leerzeichen. Interpretiere ich da jetzt zu viel hinein? Ich überlege, ihm zurückzuschreiben, aber je schlechter es meinem Kopf geht, desto mehr muss ich mich ans Protokoll halten. Und der Leitfaden für richtige Dates schreibt vor, cool zu bleiben und nichts zu überstürzen. Also bleibe ich cool und werde ihn vor heute Abend weder anrufen noch ihm eine SMS schreiben.
Trotzdem kann ich das Handy nicht wegstecken. Ich kaue auf meinem Baguette herum. Solange ich es im Mund habe, ist es gar nicht mal so schlecht, doch sobald es meinen Magen erreicht, verwandelt es sich in eine Art Spachtelmasse. Es war richtig, dass ich mir heute Morgen freigenommen habe, aber nun bin ich ein bisschen einsam. Ich vermisse das Getratsche mit den Kollegen. Im Moment würde ich mich sogar über Jim Davis mit seinen gelben Zähnen und seinem zynischen Har-har-har freuen.
Ich kämpfe mich tapfer durch das Baguette, doch das stumpfe Ende des Brots besteht aus einer undurchdringlichen Panzerplatte. Ich kratze den Thunfisch mit den Fingern heraus, stecke ihn in den Mund und werfe den Rest weg.
Dann lecke ich mir die Finger ab und mache mich unverzüglich daran, eine SMS zu schreiben. An Lev. Er ist einer von meinen und nicht von Dads Bekannten. Mein ganz persönlicher Retter in der Not. Ein Pilger auf der dunklen Seite.
HAST DU ZEIT , MUSS DICH TREFFEN . FI , schreibe ich.
Noch bevor ich wieder zu Hause bin, erhalte ich eine Antwort: HEUTE ABEND .
Erleichterung. Lev kommt. Dann wird alles gut.
Am Nachmittag sitze ich mit Jane und fünf Prostituierten in einer Einzimmerwohnung in der Nähe der Llanbradach Street. Fotos. Schokokuchen. Zigaretten. Gardinen an den Fenstern und ein bis auf den Fußboden durchgelaufener Teppich. Jemand hat die Batterien aus dem Rauchmelder genommen, weil er sonst ständig losgehen würde. Über dem Schirm der Nachttischlampe hängt ein rosa Spitzentop, ansonsten könnte die Wohnung ja zu viel Stil haben.
Dazu ein Haufen dummer Hühner, die Kleider tauschen, Unterwäsche vergleichen, beim Foto von George Clooney zu kichern anfangen und nicht das Geringste verraten, was uns weiterhelfen könnte, sie vor dem Arschloch zu beschützen, das durch die Gegend läuft und ihre Freundinnen um die Ecke bringt.
Da flippe ich aus. Als Jane ihnen das Foto von Wojciech Kapuscinski zeigt, wollen
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