Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
Vom Netzwerk:
nachprüfen müssen. Aber selbst ohne Tränen spüre ich ein Gefühl in mir, das wohl üblicherweise mit Tränenvergießen einhergeht. So genau weiß ich das allerdings nicht. Ich bin da schließlich keine Expertin.
    Am liebsten würde ich Sikorsky und Kapuscinski und Fletcher und Yuri Soundso und Dimi Irgendwen umbringen.
    Und danach würde ich gerne den ertrunkenen, von den Fischen angeknabberten Brendan Rattigan aus der Bucht von Cardiff ziehen und zum Leben erwecken, damit ich ihn noch mal umbringen kann.
    Wie betäubt warte ich, bis Jane fertig ist. Zum Glück ist sie hier bei mir.
    Als wir die Wohnung verlassen, ist es schon nach neun Uhr abends. Jane hat von irgendwoher eine marineblaue Strickweste gezaubert und zieht sie sich über. Ich trage nur eine Hose und ein weißes Top, aber mir ist nicht kalt. Die Kälte, die ich verspüre, hat nichts mit der Temperatur zu tun.
    » Alles in Ordnung?«, fragt Jane.
    » Ja.«
    Jane zückt ihr Notizbuch. » Ich kann das übernehmen, wenn du willst. Jackson will sicher so schnell wie möglich informiert werden.«
    Ich nicke. Ja, Jackson will sicher informiert werden. Jetzt hat er, was er braucht.
    » Wenn du … also, wenn du es Jackson persönlich erzählen willst, dann ist das völlig in Ordnung«, fügt sie hinzu.
    Ich bin verwirrt. Das verstehe ich nicht. Aber offenbar sage oder tue ich irgendwas, damit man meine Verwirrung bemerkt, denn Jane fängt an zu erklären.
    » Ich werde es ihm so oder so sagen. Dass du den Durchbruch geschafft hast. Ich weiß zwar nicht genau, woher du gewusst hast, was du tun musst, aber es hat funktioniert. Das werde ich Jackson genau so sagen, verlass dich drauf.«
    Ich schüttle den Kopf. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe es einfach getan. » Ich bin ausgeflippt, Jane. Mehr nicht. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten, dass sie den Mund nicht aufgemacht haben. Ich bin einfach nur ausgeflippt.«
    » Alles in Ordnung?«
    » Ja.« Wieso fragen mich das alle ständig? » Ich fahre jetzt nach Hause, wenn es dir nichts ausmacht. Tut mir leid, dass du das allein machen musst.«
    » Fahr ruhig.«
    Der Himmel über uns hat die mittelblaue Farbe eines Sommerabends. Weder hell noch dunkel. Jetzt gehen die Straßenlampen an, obwohl man sie überhaupt noch nicht braucht. Das Haus hinter uns liegt in völliger Stille. Die kleine Straße, die ganz wie zu Zeiten Edwards VII . aussieht, auch. Am Ende der Straße fließt der Fluss vorbei. Auch er ist still. Ein Insekt, verwirrt durch die Straßenlampen, landet in meinen Haaren. Jane greift danach und befreit es.
    » Danke«, sage ich.
    Sie lächelt und bringt das von ihr und dem Insekt verstrubbelte Haar wieder in Ordnung. » Fahr vorsichtig.«
    Ich nicke und gehorche. Vorsichtig, nüchtern und in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit. Will ich eigentlich gar nicht. Ein Teil von mir will das genaue Gegenteil. Am liebsten würde ich jetzt zwei Stunden lang auf leeren Straßen ohne Verkehrsüberwachungskameras herumfahren. Auf den Serpentinen nach Brecon Beacons und den Black Mountains zum Beispiel. Einem ewigen Sonnenuntergang hinterher, der einen von Tal zu Tal, von Hügel zu Hügel und um immer noch eine Kurve führt. Ohne Verkehr, ohne Richtung, ohne Ziel.
    Das ist mir nicht vergönnt, aber zumindest komme ich mit heiler Haut zu Hause an.
    Im Eisfach liegt ein Fertiggericht, das ich in der Mikrowelle auftaue. In der Mitte ist es noch gefroren, aber ich esse es trotzdem. Essen ist Essen.
    Ich überlege, eine zu rauchen, entscheide mich jedoch dagegen.
    Stattdessen nehme ich ein heißes Bad. Da mir keine Musik einfällt, die an der Situation etwas ändern würde, genieße ich einfach die Stille.
    Als ich aus der Badewanne steige, verzichte ich darauf, wieder in die Büroklamotten zu schlüpfen. Lev kommt gleich vorbei, und er hasst Büroklamotten. Ich entscheide mich für Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt. Wenn wir ausgehen, kann ich ja noch einen Fleecepullover überziehen.
    Dann ruft Brydon an. Er ist in London, hat aber gerade von den Neuigkeiten erfahren, die Jane auf dem Revier verkündet. Anscheinend herrscht große Aufregung. Er will in aller Ausführlichkeit darüber reden, doch ich wechsle das Thema. Schließlich haben wir schon genug Lebenszeit damit verschwendet, über die Arbeit zu reden. Stattdessen plaudern wir zwanzig Minuten lang netten, zärtlichen, sinnlosen Müll. Dann gähnt er, und ich sage ihm, dass er ins Bett gehen soll.
    » Bis bald, Fi.«
    » Ja, bis bald. Ich vermisse

Weitere Kostenlose Bücher