Totenklage
Symptome? Ja, die auch. Derealisation? Das habe ich nicht so recht verstanden, aber wenn es das ist, nach dem es sich anhört, dann habe ich das auch. Depersonalisation? Aber ganz gewaltig – früher litt ich sogar megagewaltig darunter. Ich war die ungeschlagene, unbestrittene Weltmeisterin im Depersonalisieren. Dann wäre da noch der letzte Teil: Wiedererleben des Ereignisses, also in Form von Albträumen oder auch als Flashbacks. Nein. Welches Ereignis denn? Ich suche weiter auf Wikipedia nach einem Hinweis auf dieses Ereignis, das ich erlebt haben soll, finde aber nichts. Und was ist mit den nächtlichen Schrecken? Dem namenlosen Horror um Mitternacht? Der grinsende Schädel im Dunkeln? Zählen diese Dinge als Albträume oder Flashbacks?
Wenn ja, dann kann ich hinter alle Symptome einen dicken fetten Haken setzen.
Aber was hat es mit diesem Ereignis auf sich? Es gibt kein Ereignis, obwohl Lev und der umgangssprachliche Axelsen da anderer Meinung sind. Aber sie liegen falsch. Es gibt kein Ereignis.
Seltsam. Selbst in meinem belämmerten Zustand merke ich, dass hier was nicht stimmt. Als ich zum ersten Mal krank wurde, forschte man lang und breit nach dem Warum. Was war der Auslöser? Das war keine Krankheit für behütet aufgewachsene Teenager. Das ergab keinen Sinn. Die Psychiater bohrten nach und bohrten nach, und die Leute vom Sozialamt versuchten, meinen Eltern ihre kleinen Scheißtheorien aufzudrücken. Allerdings ohne Erfolg. Es gab keine Erklärung, woraufhin die ursprüngliche Frage – von mir ganz bestimmt, aber ich glaube auch von allen anderen – hintenangestellt wurde. Meine Krankheit war eben plötzlich da, mit der Logik eines Erdbebens. Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Pech gehabt.
Und nun, wo ich es am wenigsten erwartet hätte, sagen mir Lev und Axelsen, dass ich noch mal drüber nachdenken sollte. Ein Wiedererleben des Ereignisses. Es gibt kein Ereignis, obwohl Lev und Axelsen und Wikipedia da anderer Ansicht sind.
Das Telefon neben mir klingelt. Ein Beamter geht ran. Leider kann ich das geflüsterte Gespräch nicht mithören, weil ich gerade dabei bin, mir wichtiges Wissen anzueignen und nicht durch so triviale Dinge gestört werden will. Das Telefonat ist beendet, und der Beamte kommt auf mich zu.
» Das war Axelsen. Er wollte wissen, ob Sie auch wirklich nach Hause gefahren sind.«
» Ach ja.« Jetzt fällt’s mir wieder ein.
» Soll ich Sie zu Ihrem Auto bringen? Können Sie fahren?«
Ich nicke schwach. Unterwürfig. Dann werde ich auf den Parkplatz geführt und fahre so vorsichtig nach Hause, dass ich auf der M4 angehupt werde, da ich mit sechzig auf der linken Spur dahinkrieche.
35
Ich betrete mein Haus mit einer vagen Erwartung, die allerdings enttäuscht wird. Lev ist weg, aber das habe ich mir schon gedacht. Keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, keine SMS .
Die Küche ist blitzsauber. Das war nicht ich, sondern Lev. Er hat mir eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen: SADG , VDV . Scheiß auf die Gefühle, vertrau deinem Verstand. Ein echt guter Slogan, wenn mir die Bemerkung gestattet ist.
Jetzt muss ich ihn nur noch umsetzen. Denk nach, Griffiths, denk nach.
Was hat es mit diesem Schock auf sich? Es ist ziemlich eindeutig, dass ich unter den meisten Symptomen einer PTBS leide. Genauso eindeutig ist es, dass ich so aussehe und mich so verhalte, als hätte ich gerade eben einen mächtigen Schock erlitten.
Gleichzeitig aber fehlt mir das wichtigste, unverzichtbare, alles entscheidende Element in dieser Formel, eine » extreme psychische oder traumatische Belastung«. Ein Ereignis. Das ist mir ein Rätsel, doch ich muss es ja nicht sofort lösen. Darum kümmere ich mich später.
Erst mal muss ich herausfinden, wie man diese Symptome abmildert. Momentan habe ich ziemlich schwer daran zu knabbern, und ich weiß genau, dass es noch viel schlimmer kommen kann. Also stelle ich eine Liste mit erprobten Techniken gegen meinen Wahnsinn auf: 1. Joint rauchen, 2. in die Arbeit stürzen, 3. zu Mam und Dad fahren, 4. Atemübungen, und so weiter.
Punkt 1 kann ich streichen. Ich habe gestern schon viel zu viel geraucht, und das Dope hilft nur bis zu einem gewissen Punkt. Es ist eine exzellente Selbstmedikation, wenn die Probleme leicht bis mittelschwer sind. Im Augenblick sind sie mittelschwer bis schwer und nehmen Kurs auf sehr schwer bis extrem.
Punkt 2 kann ich ebenfalls vergessen. Man hat mich ja gerade von der Arbeit nach Hause geschickt. Jeder,
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