Totenklage
der mit mir zusammenarbeitet, sieht mich komisch an und sagt, ich soll mal einen Tag freinehmen. Also habe ich keine Arbeit, in die ich mich stürzen könnte. Das hat sowieso nicht geholfen.
Punkt 3 ist da schon interessanter. Das könnte klappen. Nicht sofort, aber in ein paar Tagen. Allerdings wäre es ein Rückschritt. Eine Palliativbehandlung, keine Heilung. Das hebe ich mir lieber für den Notfall auf.
Punkt 4 wären beispielsweise bequeme Schuhe oder ein ballaststoffreiches Müsli. Gut für den Körper, aber furchtbar langweilig. Trotzdem ist Punkt 4 ganz brauchbar, und ich werde auf ihn zurückkommen.
Außerdem schwebt ein möglicher Punkt 5 im Raum. Sex. Obwohl ich noch nicht viele Sexpartner hatte. Anfangs ein paar Frauen. Dann zwei oder drei pickelige, ungeschickte Studenten in Cambridge, die mir auf unangenehm aufdringliche Weise an die Wäsche wollten und denen ich es unangenehmerweise gestattete. Nach der Zeit in Cambridge gab es jemanden, den ich fast als meinen Freund bezeichnet hätte. Ein netter Kerl. Inzwischen hat er einen Buchladen. Und Ed Saunders natürlich. Nur bei Ed fühlte ich mich wohl. Sowohl im Bett als auch außerhalb. Mit Ed war Sex ein Mittel, um mir selbst bewusst zu werden. Ein Trick, genau wie Gras zu rauchen oder zu den Eltern zu fahren.
Und jetzt Brydon. Einerseits würde ich gerne zu Brydon fahren, ihn aufs Bett werfen und so gierigen Sex mit ihm haben, dass ich mich selbst wieder spüre. Ihn benutzen.
Aber sobald ich diesen Mechanismus begriffen habe, entscheide ich mich gegen diese Option. Bei Brydon will ich alles richtig machen. Die hohe Kunst erlernen, eine Freundin zu sein. Eine richtige Freundin. Eine zuverlässige, längerfristige Freundin, der es beim Sex nur um Sex geht. Ganz einfach. Und nicht um eine perverse Art der Selbstmedikation.
Ich mache mir eine Tasse Tee und verbringe eine Dreiviertelstunde mit meinen Übungen. Erst das Atmen: Ein, zwei, drei, vier, fünf. Aus, zwei, drei, vier, fünf. Nach fünfzehn Minuten Atmen fange ich mit den Leibesübungen an. Ich bewege die Arme. Die Beine. Versuche, sie zu spüren, während ich sie bewege. Stampfe auf den Boden, um meine Füße ebenfalls zu spüren. Ed Saunders wäre stolz auf mich. Obwohl ihn meine Ansichten, was Sex angeht, wohl etwas beunruhigen würden. Vielleicht sind sie ihm aber auch bereits bekannt.
Das ist sogar durchaus wahrscheinlich.
Eines Tages werde ich mich bei ihm entschuldigen.
Aber nun muss ich mich auf die naheliegenden Probleme konzentrieren. Das Grundprogramm habe ich abgearbeitet, und jetzt? Was soll ich jetzt tun? Was möchte ich denn tun? Mir fällt nichts ein. Ich hole Papier und Stift und schreibe: Was ist mir wichtig?
Fast unmittelbar schreibe ich in riesigen Großbuchstaben: APRIL MANCINI . Darunter will ich weitere Namen auf die Liste setzen. Janet Mancini. Stacey Edwards. Ioana Balcescu. Die Namen der Opfer. Vielleicht gibt es ja auch noch andere Dinge, andere Personen, die mich interessieren. Rattigan. Fletcher. Penry. Sikorsky. Aber der Stift in meiner Hand bewegt sich nicht. APRIL MANCINI . Sie ist mir wichtig. Sie ist alles, was mich interessiert. Das Mädchen mit dem kandierten Apfel.
Dann überrollt mich das schlechte Gewissen wie eine Flutwelle: Ich habe die Beerdigung vergessen. Obwohl ich versprochen habe hinzugehen. Ich habe sogar versprochen, der netten Frau, die die Hotline angerufen hat – Amanda hieß sie, glaube ich – und die geweint hat, als ich ihr von April und Janet erzählt habe, Bescheid zu geben. Sie wollte auch zur Beerdigung kommen.
Ich rufe im Büro an, aber da weiß niemand etwas Genaueres oder interessiert sich sonderlich dafür. Ich versuche es im Krankenhaus. Das gleiche Spiel. Da ich geistig nicht ganz auf der Höhe bin, frage ich wahrscheinlich die falschen Leute nach den falschen Dingen. Also melde ich mich bei Bev Rowland. Sie weiß auch nichts, will es aber für mich herausfinden. Und tatsächlich ruft sie zehn Minuten später zurück. Die Beerdigung ist am Dienstag, dem Tag nach der Autopsie. Wenn sich am Montag in der Gerichtsmedizin keine dramatischen neuen Erkenntnisse ergeben, dann werden Stacey Edwards und Janet und April Mancini am darauffolgenden Tag eingeäschert.
Ich bedanke mich bei Bev und lege auf.
Sofort fühle ich mich etwas menschlicher. Jetzt weiß ich, was ich tun will. Ich werde ein ordentliches Begräbnis für April organisieren. Warum, weiß ich nicht. Aber April verlässt sich auf mich.
Ich rufe bei ihrer Schule an
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