Totenklage
Wir haben ein Haus voll Bargeld, eine vermisste Person, aber kein Verbrechen. Sonst wäre die ganze Sache etwas dringlicher. Ich hätte eine Leiche in Fletchers Badezimmer deponieren sollen, bevor ich die Streifenbeamten angerufen habe.
Ich schleppe mich in den Konferenzraum und setze mich vor den Computer, der mir zugewiesen wurde. Die kalbsgesichtige Assistentin bringt mir ungenießbaren Tee in einem Plastikbecher, der sich jedes Mal nach innen wölbt, wenn ich ihn aufheben will.
Sobald ich am Schreibtisch sitze, umgibt mich der Nebel.
Ich bin mal mit meiner Tante Gwyn in den Black Mountains spazieren gegangen. Anfangs war es neblig, aber schön, die Collies rannten vor uns in den mit Raureif bedeckten Farn. Dann wurde der Nebel dichter, als hätte sich das Licht verhärtet oder komprimiert. Und dann war die Welt plötzlich weg. Verschwunden in Stille und Kälte. Die Collies kamen und rannten wieder weg, sie hatten offensichtlich keine Probleme damit. Aber Gwyn und ich waren auf einmal Wanderer im Nichts, Vladimir und Estragon des Gebirges. Gwyn kennt diese Berge seit ihrer Geburt, und trotzdem waren wir gezwungen, so lange abzusteigen, bis wir an eine Hecke gelangten. Wir folgten ihr den Rest des Weges, die Hecke immer zur Rechten, bis wir endlich das Tor und den Pfad erreichten, auf dem wir gekommen waren. Wenn wir dieses Tor verfehlt hätten, wären wir wohl in alle Ewigkeit dort herumgeirrt.
Genauso ist es heute – natürlich ohne Collies, Gwyn oder das rettende Tor. Axelsen schaut öfter vorbei als sonst. Er kommt und geht und behält alles im Auge. Aufmerksam nehme ich meine Aufgaben entgegen – beispielsweise soll ich eine Liste aller Geschäftspartner im Ausland erstellen, die Fletcher in den letzten zwei Jahren besucht hat –, nicke eifrig, und zwei Stunden später sitze ich vor einem Haufen Gekritzel und frage mich, was zum Teufel ich noch mal tun sollte. Axelsen glaubt, dass ich ihn verarschen will. Die anderen im Team auch. Ich entschuldige mich und gelobe Besserung.
Doch sobald ich mich entschuldigt habe und sie mich wieder in Ruhe lassen, senkt sich der Nebel erneut über mich, und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich vor fünf Minuten gesagt habe.
Dorsch, Wittling, Hering, Steinbutt.
Und was ist mit Heilbutt? Was ist ein Heilbutt überhaupt? Ein Plattfisch, glaube ich. Google sagt mir, dass man im Nordatlantik Heilbutt fangen kann. Dass der Heilbutt in den ersten sechs Monaten auf beiden Seiten des Körpers Augen hat und wie ein normaler Fisch herumschwimmt. Nach einem halben Jahr wandert ein Auge auf die andere Seite, der Fisch dreht sich um neunzig Grad und verbringt den Rest seines Lebens damit, zur Oberfläche des Meeres und nicht ein einziges Mal auf den Grund zu blicken. Ob er Höhenangst hat?
Rattigan hatte bestimmt keine Lust aufs Heilbuttangeln.
Jedes Mal wenn Fletcher auf einem » Angeltrip« unterwegs war, lief eines von Rattigans Schiffen aus dem Baltikum ein. Üblicherweise aus Kaliningrad, manchmal auch aus St. Petersburg. Das wäre jetzt noch interessanter, wenn Rattigan nicht eine ganze Flotte gehört hätte.
Kaliningrad. Hauptexportgut: russische Gangster, afghanisches Heroin und eine Form von Kriminalität, die kapitalistische Organisation mit sowjetischer Kaltblütigkeit kombiniert. Das Beste beider Welten.
Ich habe vergessen, was ich für Axelsen erledigen sollte, also rufe ich stattdessen alle Unternehmen an, bei denen man Boote für einen Angelausflug an der südwalisischen Küste chartern kann. Ich frage nach, ob es wohl möglich wäre, die Fahrtenbücher einzusehen und rauszufinden, wann und wie lange jemand ein Boot gemietet hat. Natürlich, sagen die meisten, wenn es mir Spaß macht. Im Prinzip ja, sagen ein paar andere, aber dafür müsste ich eine andere Abteilung ihres zweifellos gigantischen Verwaltungsapparates kontaktieren. Ein Skipper aus Westwales legt sofort auf, nachdem ich mich vorgestellt habe. Nach ein bisschen Herumschnüffeln finde ich heraus, dass es sich bei diesem unhöflichen Menschen um einen Martyn Roberts aus Milford Haven handelt, der bereits wegen bewaffneten Raubüberfalls und schwerer Körperverletzung verurteilt wurde.
Bei seinem nächsten Besuch setze ich Axelsen über alles ins Bild.
» Glauben Sie, dass Rattigan mit Fletcher zum Angeln gefahren ist?«
» Nein.«
» Warum also hätten sie ein Fischerboot mieten sollen?«
» Keine Ahnung.«
» Rattigan besaß eine ganze Flotte, schon vergessen? Hätte er sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher