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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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Gedanken fassen kann: Fiona Griffiths, das solltest du nicht tun. Nicht jetzt und überhaupt nie. Lass es einfach.
    Ich höre gar nicht zu.
    Nicht zuletzt, weil mir eine tief in mir sitzende Gewissheit das Gegenteil sagt: Fiona Griffiths, das ist deine Chance. Nutze sie. Nutze sie jetzt. Vergeude sie nicht, denn sie kommt nie wieder.
    Ganz leise ziehe ich die Schuhe aus und schleiche mich in Strumpfhosen in die Umkleide zurück. Ich mache das Licht aus, wobei ich darauf achte, dass der Schalter nicht zu laut klickt. Der Raum ist unmöbliert und leer. Ich kann nicht das Geringste sehen.
    Noch ist es nicht zu spät zur Umkehr. Dessen bin ich mir bewusst. Mit jeder verstreichenden Sekunde hält mein freier Wille neue Fluchtmöglichkeiten für mich bereit, und ich schlage sie alle aus. Obwohl mein Herz immer noch viel zu schnell schlägt, bin ich seltsam ruhig. Ich öffne die Tür zur Besenkammer, gehe hinein und ziehe sie vorsichtig hinter mir zu.
    Im Dunkeln setze ich mich auf einen Eimer. Versteckt. Unsichtbar. Vergessen.
    Ich warte.
    Geräusche von draußen. Krankenhausgeräusche. Die Klimaanlage. Eine Jalousie, die im Wind klappert. Das elektronische Piepen einer Maschine. Das leise Klicken und Knarren eines großen Gebäudes.
    Dann höre ich, wie Hughes und Price in den Empfangsraum gehen. Kurze Pause. Schlüsselklimpern. Eine gedämpfte Unterhaltung, dann das Klicken der Eingangstür. Der Knall, mit dem sie zufällt. Das Schnappen eines Schlosses. Zwei Paar Schritte, die sich entfernen.
    Nun ist es wirklich zu spät. Alle Fluchtwege sind versperrt. Ich kann nicht glauben, was ich soeben getan habe. Aber noch unglaublicher finde ich, dass ich es nicht bereue. Meine Entscheidung kommt mir völlig richtig vor. Mir wird richtig schwindlig, weil alles so einfach ist.
    Eine Stunde lang bewege ich mich kaum. Ich sitze auf einem Putzeimer in einer Besenkammer neben einem stillen Umkleideraum. Ich wage es nicht einmal, mein Gewicht zu verlagern oder die Beine auszustrecken.
    Dann doch. Jackson und Price sind weg. Ich bezweifle, dass der Sicherheitsdienst hier nachts seine Runden dreht. Die Toten sind ja nicht gerade für ihre Neigung zum Vandalismus bekannt, und ich nehme an, dass der Sinn der ganzen Sicherheitsvorkehrungen darin besteht, genau das zu verhindern, was ich gerade vorhabe.
    Ich bin ganz allein im Leichenschauhaus. Allein mit den Toten.
    Wenn Price den Hauptausgang abgeschlossen hat, bin ich bis morgen früh hier eingesperrt. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so aufgeregt – und so glücklich. Ich warte weiter ab. Kein Grund zur Eile.
    Schließlich gehe ich in den Empfangsraum und berühre die gummiartige Pflanze mit dem Finger. Sie ist tatsächlich echt. Auf dem Empfangsschalter liegen ein paar Gegenstände. Ich schiebe sie hin und her, um mir meiner Anwesenheit bewusst zu werden. Keine Überwachungskameras an der Decke, nichts. Auf dem Schalter liegt eine Karte an eine gewisse Gina. Ich lese sie durch – uninteressant – und lege sie zurück.
    Mir ist ein bisschen kalt. Ich trage einen dunklen Rock, eine Strumpfhose, eine weiße Bluse und eine Jacke. Aus offensichtlichen Gründen ist es in einem Leichenschauhaus kälter als anderswo, und heute Nacht wird es hier auch bestimmt nicht wärmer werden. Ich ziehe meine flachen Schuhe an, damit ich nicht auf dem kalten Boden laufen muss. Angesichts der Umstände wirkt meine formelle Kleidung etwas fehl am Platze.
    Ich spaziere noch ein wenig herum und probiere ein paar Türen durch. Keine ist verschlossen. Warum auch? Hier ist ja keiner, und der Haupteingang ist abgesperrt.
    Ich schalte das Licht in der Damentoilette ein und betrachte mein Spiegelbild. Kurzes dunkles Haar. Unauffälliges Make-up. Ein pflichtbewusstes, tüchtiges kleines Gesicht. Irgendwie weiß ich nie, ob ich wie ich aussehe oder nicht. Ich lasse heißes Wasser über meine Hände laufen, dann fahre ich durchs Haar und stelle es punkmäßig auf. Mehr ich oder weniger? Keine Ahnung, aber ich lasse es so.
    Jetzt bin ich nervös. Richtig nervös. Obwohl ich genau weiß, was als Nächstes passieren wird.
    Ich trockne mir die Hände ab, schalte das Licht aus und gehe ruhig zum Obduktionssaal Nr. 2 hinüber, in dem die Leichen von Stacey Edwards und der Mancinis liegen. Die Tür ist geschlossen, aber nicht abgesperrt. Das weiß ich, weil ich es vorhin versucht habe. Ich halte einen Moment inne. Nicht, um mich zu sammeln. Nur – eine Pause. Würde ich ab und zu beten – was ich im Leben nicht

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