Totenklage
bestmögliche Version ihrer selbst ans Licht gebracht, unberührt von den Unglücksfällen des Lebens und unberührbar in alle Ewigkeit.
Ich fahre mit der Hand über ihren ganzen Körper, bis zu den Füßen. Ihre inneren Organe wurden herausgenommen, gewogen, gemessen und analysiert. Manchmal werden sie wieder in den Leichnam gelegt, manchmal jedoch auch vernichtet und durch billiges Füllmaterial ersetzt – für Knochen beispielsweise wird Rohrisolierung benutzt. Ihre Haut fühlt sich wundervoll an. Wahrscheinlich weil sie so kühl ist. Kalte Haut fühlt sich immer glatt an. Aber die Wahrheit ist, dass Janet Mancini eine attraktive Frau mit guter Haut ist. Nur um Haaresbreite von einer echten Schönheit entfernt.
Ich drücke ihre Füße leicht nach unten, damit sie wie die einer Tänzerin aussehen und nicht im Neunziggradwinkel abstehen wie die eines Polizisten. Ich kann ihren Fußknöchel fast vollständig mit der Hand umfassen. Das gelingt mir mit meinen eigenen Knöcheln nicht. Ich frage mich, was aus Janet Mancini geworden wäre, wenn sie bessere Ausgangschancen gehabt hätte. Kindergärtnerin. Sekretärin. Vertreterin. Komisch, gerade jetzt über so etwas nachzudenken, wo sie kalt und nackt vor mir liegt. Vor allem im Bewusstsein, welche ökonomische Bedeutung diese Nacktheit hatte. Trotzdem. Sie war keine Prostituierte. Eigentlich nicht. Nicht zu Lebzeiten und jetzt schon gar nicht.
» Wer hat dich getötet, Janet Mancini? War es Karol Sikorsky?«, frage ich sanft.
Sie gibt keine Antwort.
» Wir werden ihn schnappen. Wir werden alle schnappen, die dir jemals etwas angetan haben.«
Sie sagt immer noch nichts.
» Du hast dein Bestes gegeben. Das weiß ich. Du hast immer dein Bestes gegeben.«
Ich will sie wieder zudecken, bis mir einfällt, dass es der Toten wohl egal ist. Ihre Nacktheit kümmert sie so wenig wie hellblaue Krankenhauslaken und weiße Mullverbände.
Dann decke ich April auf.
Ihr kleiner Körper hört an der Nase auf. Keine Augen. Keine Stirn. Kein Hohlraum im Schädel. Und doch ein liebenswerter kleiner lächelnder Mund, eine zierliche Kinderfigur und eine Hand, die zufällig in meine Richtung deutet. Ich nehme sie. Ich halte sie so lange fest, bis meine Haut kühl und ihre warm wird. Nun haben wir die gleiche Körpertemperatur. Es kommt mir vor, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Wie alte Freunde.
» Wer hat dich umgebracht, kleine April?«
Sie antwortet nicht.
» Ich bin im April geboren, weißt du? Vielleicht haben wir am gleichen Tag Geburtstag.«
Sie lächelt. Das gefällt ihr.
» Du hast dir Sorgen um deine Mam gemacht, oder? Du hast es nicht leicht gehabt. Aber sie hat ihr Bestes gegeben. Und du auch. Und jetzt gibt es überhaupt nichts mehr, worüber du dir Sorgen machen musst.«
Stimmt ja auch. Sie nicht und ich auch nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich bei den beiden bleibe. Inzwischen ist es bis auf den schwachen violetten Lichtschein der Lampen auf dem Parkplatz stockdunkel.
Ich bin ganz steif und vertrete mir die Beine, indem ich das übrige Leichenschauhaus erkunde. Ich entdecke drei weitere Leichen. Eine ist die eines alten Mannes. Ein richtiger Hallodri, wie es aussieht. Ich nenne ihn Charlie das Schlitzohr, und er flirtet heftig zurück. Dann ein fetter Typ in den Fünfzigern, mit dem ich überhaupt nicht warm werde. Ich gebe ihm nicht mal einen Namen, und anscheinend ist er froh, als er mich wieder loshat. Als Letzte kommt eine reizende silberhaarige Frau. Sie ist splitternackt und grinst die Decke an, während wir uns unterhalten. Sie – Edith – mag ich am liebsten. Trotzdem – schließlich bin ich wegen April und Janet hier, und zu den beiden gehe ich auch wieder zurück.
Ich schiebe Aprils Bahre zu Janet hinüber, damit ich mit der Mutter reden und gleichzeitig die Hand der Tochter halten kann. Doch erst erzähle ich April eine Gutenachtgeschichte über Tante Gwyns Bauernhof und wie er von oben aussieht. Das gefällt uns, aber dann wollen wir lieber still sein und einfach nur glücklich dasitzen.
April ist Janets Tochter.
Das wollte mir April die ganze Zeit über sagen. Aber jetzt hab ich’s endlich kapiert. Janet selbst kannte ihre Mutter nicht richtig, weil sie schon in jungen Jahren in Pflege gegeben wurde. Bei Stacey Edwards war es genauso, wie auch bei vielen anderen Prostituierten.
Nur Janet gab nicht auf. Sie tat alles, was in ihrer Macht stand. Sie wollte April eine gute Mutter sein, so gut, wie es ihr nur möglich war. Und
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