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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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tue –, dann wäre dies der geeignete Augenblick. Keine Eile. Ich stecke meine Bluse in den Rock und streiche sie glatt, bevor ich die Tür öffne. So ist es richtig, Griffiths. Mach einen ordentlichen Eindruck.
    Dann betrete ich den Saal. Draußen wird es langsam dunkel, und tiefe Schatten liegen im Raum. Ein Abendraum. Ich schalte weder das Licht ein noch decke ich die Leichen ab. Ich gehe nur langsam umher und orientiere mich.
    Zwei Arbeitsflächen. Ein » trockener« Bereich für Papiere und so weiter und ein » nasser« Bereich für Organe, Eingeweide und andere schöne Dinge. Die Schreibtischlampe. Ein paar Poster mit Diagrammen an den Wänden. Sonst nichts. Obwohl auch hier dumpf die Krankenhausgeräusche zu hören sind, ist es der stillste Raum, in dem ich jemals war. Und der friedlichste.
    Zuerst begrüße ich Stacey Edwards.
    Sie sieht genauso aus wie bei unserer ersten Begegnung. Nur ohne Isolierband und Kabelbinder. Trotzdem tot. Ich halte eine Zeit lang ihre Hand und streichle ihr Haar. Dafür gibt es eigentlich keinen Grund. Ihretwegen bin ich nicht hier. Aber es wäre nicht nett, sie außen vor zu lassen, nur weil ich keine Bindung zu ihr verspüre. Heute ist die letzte Nacht, die sie auf Erden verbringen wird. Morgen wird der Wind sie mit April und Janet vereinen und nach Norden zu den Tälern und Hügeln tragen. Über Tante Gwyns Bauernhof und die Berge und die Regenpfeifer.
    » Alles wird gut, meine Liebe«, sage ich. » Tante Gwyn wird dir zuwinken.«
    Keine Reaktion. Aber gut, sie kennt Tante Gwyn ja auch nicht.
    » Du warst sehr tapfer, weißt du das? Dank dir haben wir das alles herausgefunden. Gute Arbeit.«
    Das hört sie gerne. Obwohl wir immer noch nicht so einen richtigen Draht zueinander haben, bleibe ich noch etwas bei ihr. Nicht dass sie mich für unhöflich hält.
    Dann gehe ich zu Janet Mancinis Rolltrage hinüber. Trage ist kein schönes Wort. Es klingt klobig und würdelos. Wie orthopädische Schuhe. Sie liegen auf Tragen, weil man sie bereits aufgeschnitten und wieder zugenäht hat. Sie waren nur Requisiten beim großen Price-Hughes-Langweilfestival. Warum sie also zurückbringen? Nicht heute Nacht – ihrer letzten Nacht auf Erden.
    Heute, so beschließe ich, sind Janet und Aprils Tragen auch ihre Totenbahren. Als hätte man sie so feierlich wie eine Königin und eine Prinzessin aufgebahrt.
    Zuerst nehme ich das Laken von Janet. Von oben nach unten. Ich falte es zusammen und lege es auf die trockene Arbeitsfläche. Was wohl, wenn ich es mir recht überlege, einen Verstoß gegen die Hygienevorschriften darstellt.
    Der Raum ist inzwischen so dunkel, dass fast keine Farben mehr zu erkennen sind. Nur Janets Haar ist immer noch vage kupferrot. Es ist wunderbar weich und so lang. Ich hatte noch nie langes Haar – vielleicht mit acht oder neun oder so –, daher beneide ich die Locken, die Janet bis über die Schultern reichen.
    Auf ihrem Hinterkopf ist ein kreisrunder Einschnitt. Dort hat Aidan Price den Schädel geöffnet, um das Gehirn zur Analyse herausnehmen zu können. Der gute Dr. Pedant arbeitet sehr sauber, und der Schnitt ist kaum zu erkennen. Irgendwie komme ich mir unanständig vor, als ich den Knochenpfropfen entferne und den Finger in das Loch stecke. Aber ich spüre nur Leere. Ein sonderbar befreiendes Gefühl. So tot zu sein, dass man buchstäblich einen leeren Kopf hat – diesen Trick hat nicht jede Leiche drauf. Meine Finger erkunden den Hohlraum.
    Dabei trenne ich mich nicht von meiner Persönlichkeit, wie es normalerweise der Fall ist. Ich habe die ganze Nacht Zeit, um auf Entdeckungsreise zu gehen. Dieser Schädel ist für mich das größte Ding überhaupt. Ganze Galaxien haben darin Platz. Meine Finger schweben durch die Sterne, und ich genieße den Raum und die Stille. Genau wie in der Scheune in Llangattock. Raum, Stille und bernsteinfarbene Augen.
    Schließlich stecke ich den Knochenpfropfen mit einem hohlen Plock wieder in den Schädel zurück.
    Janets Miene scheint unverändert. Schwer zu sagen, was sie ausdrücken will. Erleichterung womöglich. Zumindest wäre das wohl der Eindruck, den die Bewohner des Planeten der normalen Menschen hätten, aber im Moment ist mein Status als Bürgerin dieses Planeten etwas unklar. Da müssen wohl noch ein paar Papiere überprüft werden. Wie dem auch sei – » Erleichterung« ist wahrscheinlich nicht der korrekte Ausdruck. Es ist mehr als das, etwas Reineres. Als hätte erst der Tod Janet perfektioniert, die

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