Totenklage
dahinter. Wie Hasenkäfige, nur für Menschen.
Ich gehe ins Haus.
Der Garten ist nach Westen ausgerichtet. Die Sonne scheint auf die Rückseite des Hauses. Ich spaziere nach draußen und rauche bedächtig, während ich auf einem Gartenstuhl aus Metall sitze und mir die Sonne ins Gesicht scheinen lasse. Wann hat es eigentlich zum letzten Mal geregnet? Ich kann mich nicht erinnern.
Warum war ich plötzlich so scharf darauf, zur Beerdigung der beiden Mancinis zu gehen? Keine Ahnung.
Ich sitze so lange im Garten, bis die Sonne aus meinem Gesicht verschwindet, dann sehe ich im Schuppen nach meinen Pflanzen, gehe ins Haus zurück und schließe die Hintertür ab. Da der Kühlschrank so gut wie leer ist, bin ich versucht, mich bei meinen Eltern einzuladen. Sie sind nur zehn Minuten und doch eine halbe Welt entfernt. Als ich hier einzog, habe ich meine Familie so oft besucht, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, mein Elternhaus eigentlich gar nicht verlassen zu haben. Inzwischen arbeite ich hart an meiner Unabhängigkeit, aber mit der Auffüllung des Kühlschranks habe ich noch so meine Probleme. Etwas Salat. Sushi, das das Haltbarkeitsdatum um einen Tag überschritten hat, und ein Bohnensalat, der schon angefangen hat zu gären. Aber gärende Bohnen werden mich schon nicht umbringen. Ich werfe alles auf einen Teller und esse es auf.
Nach ein paar Minuten des müßigen Rumhängens raffe ich mich auf und gehe die Treppe hoch. Irgendwo muss ich doch noch diese blauen Klebepunkte haben. Ich krame sie hervor und knete sie in den Händen, damit sie weich werden. Über dem Kaminsims im Wohnzimmer hängt ein Spiegel. Mir ist nicht so recht klar, wozu Spiegel überhaupt nütze sind. Sie zeigen einem nur, was man schon kennt.
Ich nehme den Spiegel ab, lehne ihn gegen den Kamin, den ich – apropos unnütz – noch nie in Betrieb genommen habe. Dann hole ich die Fotos aus meiner Tasche und breite sie auf dem Sofa und dem Boden aus. Ein Dutzend Gesichter starren mich an. Gesichter, die ich zuletzt in der Leichenhalle gesehen habe.
Die Fotos von Janet sind ziemlich gut. Wir haben einen ganzen Stapel von Bildern, die sie zu Lebzeiten zeigen, am Tatort gefunden. Auf einem ist sie gut ausgeleuchtet und sieht direkt in die Kamera. Hübsch, scharf, brauchbar. Das perfekte Foto, wenn man einen Zeugen bitten muss, die Person darauf zu identifizieren. Aber es ist so langweilig. Uninteressant. Es gefällt mir nicht.
Ein Polizeifoto, das sie am Tatort zeigt, ist da schon viel besser. Ihre Miene ist völlig ausdruckslos. Alle Wellen, die das Leben schlägt, sind lange verebbt. Was bleibt, ist die Person an sich. Dieses Foto könnte ich stundenlang ansehen. Was ich auch tun würde, wenn da nicht sechs Bilder von April wären, die ich noch faszinierender finde. April Mancini, das süße kleine tote Mädchen.
Kurzentschlossen stecke ich die Fotos von Janet in meine Tasche zurück und klebe die von April in zwei Reihen von jeweils drei Bildern über den Kaminsims. Sie wirkt so friedlich. Kein Wunder, dass sie so beliebt war. Ich habe sie gerne hier im Haus. Das Mädchen mit dem kandierten Apfel.
» Was willst du mir sagen, kleine April?«, frage ich sie.
Sie lächelt mich an, sagt aber nichts.
Den restlichen Abend widme ich konzentriert meiner Arbeit. Ich studiere die Sozialamtsakte und den AAIB -Bericht. Dann stelle ich meine Notizen im Penry-Fall für den morgigen Termin mit der Rechnungsstelle zusammen. Namen. Zahlen. Zeitangaben. Fragen. Verbindungen. Um Viertel vor zwölf höre ich damit auf. Ich fühle mich wie erschlagen und bin überrascht, dass es schon so spät ist.
Aprils Gesicht starrt sechsfach zu mir herab. Sie will mir immer noch nichts erzählen, daher wünsche ich ihr eine gute Nacht und gehe zu Bett.
10
Die Buchhalter treten heutzutage immer paarweise auf. Diesmal sind es ein Mann mittleren Alters in einem dunklen Anzug und mit einem Schweißfilm auf der Stirn und seine jüngere Komplizin, die so aussieht, als wären ihre Hobbys rechte Winkel und Dinge in Reihen zu sortieren.
Keine Ahnung, ob ich Jackson noch dazu überreden kann, mich bei Lohan mitmischen zu lassen. Er hat zwar Nein gesagt, aber immerhin hat er mich extra in sein Büro bestellt, um mir das mitzuteilen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das Gespräch nur zu drei Vierteln aus einem Anschiss und zu einem Viertel aus einer Ermutigung bestand. Wie dem auch sei, Lohan kommt für mich erst in Frage, wenn ich die Penry-Sache abgeschlossen habe. Und das
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