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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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ich mir von verschiedenen Websites über Pferderennen gemacht habe. Im März 2008 wurde Penrys Pferd krank und konnte acht Wochen lang nicht an den Rennen teilnehmen. Irgendetwas mit seinem Bein. Darauf hat mich Ants Geschichte über den Gehhilfen-Hund gebracht. Trotzdem waren Penry und Rattigan bei den Pferderennen und haben bei Champagner und dem Duft von Pferdemist auf dicke Kumpel gemacht. Rennpferdpartner ohne Rennpferd.
    Ich bin müde, daher schließe ich den Laptop und lächle zu April hinauf. Sechs Aprils lächeln zurück.
    » Ein harter Tag«, sage ich ihr.
    Sie antwortet nicht, aber es war auch keine besonders geistreiche Bemerkung. Bei ihr ist es niemals Tag, nur endlose Nacht.
    » Ich weiß, wo du die Bilder gemalt hast«, sage ich, um das Thema zu wechseln.
    Kein Kommentar.
    » Als Kind habe ich auch viel gemalt. Wahrscheinlich auch Blumen, so wie du.«
    Wieder sechsmal kein Kommentar. Ziemlich viel Stille für ein kleines Wohnzimmer.
    Keine Ahnung, ob ich als Kind viel gemalt habe. Durch die Krankheit, die ich als Teenager bekommen habe, wirkt meine Kindheit so weit entfernt, als läge sie auf der anderen Seite eines hohen Bergs. Manchmal kann ich kleine Bruchstücke erhaschen, doch ich weiß nicht, wo sie herkommen und ob sie der Wahrheit entsprechen. Meine Vergangenheit besteht aus einer zusammengereimten Geschichte, nicht unbedingt aus tatsächlichen Erinnerungen. Aber angeblich ist das ganz normal. Vielleicht durchleben wir die Kindheit nur ein einziges Mal, danach bleibt sie für immer ein Konstrukt unserer Fantasie. Vielleicht hatte ja niemand die Kindheit, an die er sich zu erinnern glaubt.
    » Du grübelst zu viel«, sagt April. Oder hätte es womöglich gesagt, wenn sie nicht so sehr ihrer seltsamen omertà verpflichtet wäre.
    » Gute Nacht, Kleines. Bis morgen.«
    Ich schlafe gut und träume von Ant, die sich endlos ihr Haar vor einem Spiegel kämmt. Im Traum will ich auch solche Haare, aber ich weiß, dass ich sie nie kriegen werde.

12
    Fünf Uhr am nächsten Morgen.
    Die Dämmerung beleuchtet den Himmel über Llanrumney, Wentlodge und allem, was im Osten liegt. Ich merke, dass ich nicht mehr einschlafen kann.
    Ein paar Minuten lang sitze ich im Bett. Schon komisch. Ich lebe in einem Neubaugebiet, das mit Menschen vollgestopft ist, und kann doch so gut wie keine menschlichen Geräusche hören. Ein seltsames Kribbeln durchfährt meinen Körper, aber ich kann es nicht genau beschreiben und weiß auch nicht, wo es hergekommen ist. Während meiner langwierigen Genesung haben mir die Ärzte ein paar Übungen gezeigt. Die meisten waren reiner Blödsinn und hatten nichts mit dem Heilungsprozess zu tun, doch in Situationen wie dieser greife ich auf sie zurück. Ich versuche, das Gefühl zu benennen. Angst. Zorn. Eifersucht. Liebe. Glück. Abscheu. Verlangen. Neugier.
    Da die Fantasie meiner Ärzte ihrem begrenzten Wissensstand entsprach, fielen ihnen nie mehr als sechs bis acht Gefühle ein. Ich habe mehr Fantasie, als gut für mich ist, daher kenne ich auch viel zu viele Begriffe. Das Gespür für Maßlosigkeit – das ist auch ein Gefühl, oder nicht? Das Verlangen nach Schlichtheit. Die Eifersucht auf das Haar meiner Schwester. Ich habe hundert Begriffe für hundert Gefühle, aber alle sind so unpassend wie Klamotten in der falschen Größe.
    Dass ich nicht in der Lage bin, mit meinen Gefühlen zurechtzukommen, macht mir Angst. Ich mache die Atemübung, die man mir gezeigt hat. Ein, zwei, drei, vier, fünf. Aus, zwei, drei, vier, fünf. Lange, langsame Atemzüge, die meinen Puls verlangsamen. Das ist eine gute Übung. Als meine Atmung und mein Herzschlag in einigermaßen stabiler Verfassung sind, warte ich noch zwei Minuten, dann ziehe ich einen Morgenmantel über den Pyjama und gehe in den Garten. Dort rauche ich, trinke Tee und frühstücke schließlich eine Schüssel Müsli und eine halbe Grapefruit.
    Der Morgen wird langsam lauter. Mehr Verkehr. Von nebenan höre ich das Frühstücksfernsehen. Kinder spielen vor der Tür mit ihren Bällen. Ein Lieferwagen. Das gefällt mir. Am liebsten würde ich weiter hier in meinem Morgenmantel sitzen, meinen bescheuerten Rasen betrachten, rauchen und an nichts denken. Doch die Pflicht ruft. Die letzten Tage sind ziemlich gut verlaufen, und ich will den Schwung nicht verlieren und schon gar nicht die Sicherheit, die sich einstellt, wenn man etwas tut, mit dem man sich den Respekt der Kollegen verdient. In einer perfekten Welt hätte ich sogar den Respekt

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