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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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ein bisschen unheimlich.
    Ich beschließe, die Schachtel zu leeren und dann mit der Waffe und einem weiteren Karton zu verschwinden. Sollte ich es irgendwann mit mehr als 250 Leuten auf einmal zu tun kriegen, muss ich eben auf das Schälmesser zurückgreifen.
    Ich stehe wieder auf und spule mein Programm ab. Arme zusammen – nicht auf die Schmerzen achten –, Augen auf, ruhig atmen. Feuer. Feuer. Feuer.
    Ich wirble wieder herum. Ich schieße einhändig. Meine Treffsicherheit könnte besser sein, doch ich möchte nicht mit dem Pappkameraden tauschen.
    Gerade als ich mich für eine weitere Runde » Augen zu, umdrehen, schießen« bereitmache, bemerke ich plötzlich, dass die Tür, durch die ich hineingelangt bin, offen steht. Ein Mann steht in der Scheune. Tellermütze. Ein kariertes Hemd unter dickem Tweed. Er wirkt alterslos. Er könnte dreißig, aber genauso gut sechzig sein. Er starrt mich direkt an, nickt leicht mit dem Kopf, um mir zu signalisieren, dass er mich bemerkt hat, sagt allerdings nichts. Auf einmal wird mir klar, dass sich im gegenüberliegenden Ende der Scheune, wo das Licht nicht hinkommt, Tiere bewegen. Wahrscheinlich Kühe, die Schafe sind ja draußen. Undeutlich sind bernsteinfarbene Augen in der Dunkelheit zu erkennen. Ich frage mich, was die Kühe wohl von der Schießerei halten. Ob sie bereits daran gewöhnt sind?
    Keine Ahnung. Ich nehme die Ohrenschützer ab.
    » Schultern entspannen«, sagt der Mann. » Die Hände ganz locker. Nicht verkrampfen. Den Abzug leicht durchdrücken. Nicht ruckartig.«
    » Okay.«
    » Sind Sie Rechtshänderin?«
    Ich nicke.
    » Dann stellen Sie den linken Fuß leicht vor. Nur ganz leicht, eine Schulterbreite vielleicht. Jetzt nehmen Sie ein anderes Ziel ins Visier.«
    Ich wende mich wieder der Waffe zu. Inzwischen haben sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt. Ich spüre, dass mich der Mann dabei beobachtet, wie ich Position einnehme und innerhalb von drei oder vier Sekunden ein ganzes zehnschüssiges Magazin leere. Ich versuche, die Schultern locker zu lassen und die Waffe nicht zu fest zu umklammern. Die Ohrenschützer habe ich vergessen, aber diesmal bin ich darauf vorbereitet. Der alles übertönende Lärm gefällt mir sogar.
    Ich drehe mich zu dem Mann um. Er nickt.
    Das fasse ich als ein » Weiter so« auf und leere vier weitere Magazine. Dabei konzentriere ich mich auf Schultern und Hände und treffe immer besser. Ich habe ja keinen Vergleich, doch ich würde sagen, ich schlage mich nicht schlecht.
    Ich drehe mich wieder um.
    » Ganz gut. Die Hände locker.«
    » Danke.«
    Er nickt wieder. Ich schieße weiter, diesmal mit Ohrenschützern, bis die Schachtel leer ist. Lockere Hände, harte Kugeln. Als ich mich wieder umdrehe, ist der Mann verschwunden.
    Meine Arme sind jetzt schwer wie Blei, aber ich bin glücklich. Ich nehme die Pistole mit. (Ihr lieben Designer von Monsoon, wo bitte schön soll ich das Ding hintun? Elegante Kleider sind ja ganz nett, allerdings völlig ungeeignet, um Waffen darin zu verstauen.) Außerdem packe ich zwei Schachteln Munition ein, nicht nur eine. Sollte sich Rattigans Armee der Untoten aus der Cardiff Bay erheben und auf mich losgehen, wird mich erst der 501. Schurke erwischen. Mit allem, was darunter ist, kann ich es locker aufnehmen.
    Bevor ich die Scheune verlasse, gehe ich zu den Kühen hinüber und verspreche ihnen, dass sie nun ruhig schlafen können. Sie stoßen Atemwolken aus, verkneifen sich aber sonst jeden Kommentar. Beim Hinausgehen folgen mir einhundert bernsteinfarbene Augen.
    Auf dem Parkplatz hat sich nichts geändert. Niemand zu sehen, keine Bewegung. Ich gehe zum Auto zurück, fahre nach Hause und denke dabei über Penry, Huw Fletcher und Brendan Rattigan nach.
    Am längsten grüble ich jedoch darüber nach, dass ich Dave Brydon geküsst habe. Bin ich jetzt seine Freundin? Ich war noch nie die Freundin von irgendjemandem. Am nächsten bin ich dem wohl mit Ed Saunders gekommen, aber auf lange Sicht hat mir Ed nicht genug vertraut. Geliebte und gute Freundin ja. Seine Freundin zu sein, das hab ich hingegen nie geschafft.
    Wenn ich darüber nachdenke, wäre ich trotz meines kakteenähnlichen Charmes gerne Dave Brydons Freundin. Eine Freundin, die sich seinen Geburtstag merkt, sich in Gegenwart seiner Eltern manierlich benimmt und am Valentinstag nur die teuerste Unterwäsche trägt. Ich weiß nicht, ob ich all das wirklich fertigbrächte, doch die Vorstellung gefällt mir. Einen Versuch ist es wert, ich bin

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